Samstag, 18. Oktober 2014

Erkenntn-Is-land

Der Tag besteht aus Dienstexzessen,
nachts platzt jeder Traum im Wind.
Wir trinken Schnaps um zu vergessen,
wie vergänglich wir doch sind.

Trotz dem täglichen Bemühen,
bleibt unser Schaffen unerkannt.
Um diesem Kreislauf zu entfliehen,
hilft nur ein Flugticket nach Island.


So beginnt man seine Reise,
als erwartungsvoller Mann,
doch Island zeigt auf seine Weise,
dass man nichts erwarten kann.

Auf den Straßen ins weite Nichts,
erstreckt sich vor einem das Land.
Weit und breit kein Mensch in Sicht,
der Fremde bleibt hier unbekannt.

Wasserfälle, die ewig streben,
doch ihr Rauschen scheint vergebens,
dabei kann es uns so viel geben,
es spielt die Melodie des Lebens.

Zuerst seh’n sie nur aus wie Regen,
doch sicher ist man sich hier nie.
Bald wird aus dem Fall ein Schweben,
das Land grenzenloser Magie.

Inmitten zweier Gletscherspalten,
erstarrt das Leben zum Moment.
Liebe, Luft und Hass erkalten,
bis kein Mensch mehr den Ander’n kennt.

Im Abendlicht erzählt die Brandung,
von Abenteuern auf dem Meer.
Die Zeit verliert ihre Bedeutung,
das Herz wird schwer, der Kopf ist leer.

Geysire spritzen, Wälder wogen,
Gletscher wandern, Winde toben.
Das bloße Schauspiel der Natur,
ist für den Mensch ’ne Geisteskur.

Schließlich kommt die große Einsicht,
bezüglich der Vergänglichkeit:
Nur was aufrichtig und rein ist,
übersteht den Lauf der Zeit.


Mit diesem Wissen kehrt man heim,
und nichts ist mehr beim Alten.
Den Weg in die Unsterblichkeit,
kann man jetzt selbst gestalten.

So erhebt sich aus dem Nichts,
ein zartes Bauwerk aus Gedanken,
von dem die Menschheit ewig spricht,

der Tod ist überstanden.

Sonntag, 14. September 2014

Auf den Irrwegen der Zeit, Teil 4/4

Für Peter blieb die Zeit stehen. Er entschwand allen irdischen Lasten, indem er in seine Traumwelt überging, in der er vor allem Bösen sicher war und in der er immer und überall sorglos fröhlich sein konnte. Sein Leben, der Flohmarkt und sogar die Schallplatte verloren an Bedeutung, wurden zu nichtigen, menschlichen Dingen und wurden von den berauschenden Erlebnissen seines Schlafes in den Schatten gestellt, doch die Zeit lief mit unermüdlichem Pflichtbewusstsein auch ohne seine Aufmerksamkeit hinfort, sodass der Abend mit großen Schritten heranrückte. Die nette Frau, die ihm erlaubt hatte, auf ihrem Sessel Platz zu nehmen, hatte sein Schlummern schnell bemerkt, doch amüsierte sie sein Ausnüchterungsschlaf viel mehr, als dass sie ihn hätte wecken mögen. Vergnügt und beglückt darüber, einem Bedürftigen etwas gutes tun zu können, beobachtete sie zwischen ihren Geschäftsabhandlungen den Schlafenden, dessen friedliche Gesichtszüge und tiefe Atmung ihr zeigten, dass seine Erholung dringend nötig war. Die Platte hatte sie ihm aus den Armen genommen, damit er sie nicht zerquetschte und über seine hageren Beine hatte sie eine braune Wolldecke gelegt, damit er auch am späteren Nachmittag nicht zu frieren begann. So lag er nun da, vollkommen vom Schlaf eingenommen, in den Tiefen seiner geistigen Welt versunken. Die Stunden schwanden dahin, Besucher kamen und gingen, kleines Geld wechselte seine Besitzer. Die Sonne sank flach von ihrem Zenit aus in Richtung Westen und die Stadt beruhigte sich mit dem heranrückenden Abend vom sonntäglichen Treiben, das sich unbemerkt in den Vorstadtstraßen verlor. Es war schon spät, während die letzten Sonnenstrahlen schräg über die Häuser herfielen und den aufbrechenden Flohmarkt in stilles, schimmerndes Licht tauchten, als Peter durch die duftende Kühle der Abenddämmerung erwachte. Desorientiert blinzelnd sah er um sich, wobei man an seinen Augen erkennen konnte, dass seine Erinnerung noch nicht mit ihm zurück im Sessel war, sondern noch in den Weiten der Traumwelt umherirrte. Die letzten Stände und Tische, die noch hier standen, waren ihm jedoch eine gute Erinnerungsstütze, sodass er bald wusste wo er sich befand. Jedoch kamen ihm sämtliche andere Umstände, wieso es abends war, wieso er hier in einem Sessel saß und wieso er geschlafen hatte, nicht von selbst zu Bewusstsein. Hilfesuchend, in der Hoffnung weiteres zu erfahren, blickte er umher, denn um aufzustehen war er noch nicht kräftig genug. In größerer Entfernung fand er hie und da beschäftigte Verkäufer, die ihren letzten Krempel wieder zurück in die Autos luden, doch die meisten von ihnen waren schon zuhause und die heute Nachmittag noch belebte Parkplatzfläche war nahezu verstummt. Der große, leere Platz wirkte durch das Fehlen der Menschen und durch das seltsame, abendliche Licht befremdend auf Peter. Er begann in nächster Nähe nach Hinweisen auf seine Geschichte zu suchen, doch hier war nicht viel brauchbares zu finden. Eigentlich waren alle Stände um ihn herum schon abgebaut und verschwunden, lediglich neben seinem Sessel standen ein paar wenige Kisten voll zusammengewürfelten Gegenständen die aussahen als ob sie entweder vergessen waren oder jeden Moment abgeholt werden würden. Niedergeschlagen, und von seiner Unwissenheit unangenehm bedrückt, beugte er sich zur Seite um die Sessellehne herum, um den restlichen Platz ebenfalls zu Gesicht zu bekommen. Da kam zwischen den goldenen Sonnenstrahlen eine Frau über den leeren Platz auf ihn zugelaufen, deren Gesicht er aufgrund des Lichtspiels nicht erkennen konnte. Halb erschrocken und halb erfreut wandte er sich wieder nach vorne, um auf die geheimnisvollen Unbekannten zu warten, von der er hoffentlich mehr über seine Lage erfahren würde. Sie kam um den Sessel herumgelaufen, begrüßte ihn mit einem bekannten, herzlichen Blick, den er in seiner müden Erinnerung sofort wieder erkannte; dann reichte sie ihm eine Flasche Wasser hin. "Na da schau einer an! Sie sind tatsächlich noch einmal von alleine aufgewacht! Da haben Sie aber Glück gehabt, denn ich hätte Sie jetzt sowieso aufwecken müssen, es ist schon ziemlich spät geworden. Hatten sie denn einen erholsamen Schlaf?" Diese Sätze sprach sie mit einer Fürsorge und Zuneigung, als hätte es sich bei Peter um ihren Sohn gehandelt. Von derartiger Freundlichkeit überwältigt, versuchte Peter ihr eine angemessene Antwort zu geben. "Oh ja, natürlich, dankesehr! Sie müssen entschuldigen, es tut mir wirklich leid, dass ich hier eingeschlafen bin und Ihnen dadurch so zur Last gefallen-" Da unterbrach sie Peter mit mütterlicher Bestimmtheit indem sie ihm entgegnete: "Nein, nein, nein. Gar nichts muss Ihnen leid tun, mein Lieber! Wissen Sie, es ist mir immer wieder eine Freude Leuten helfen zu können. Und den Sessel hätte ich heute sowieso nicht verkauft, den schleppe ich schon seit Jahren mit mir herum. Jetzt trinken Sie erst einmal, dann sind Sie wieder bestens erholt." Wortlos folgte er ihrer Anweisung, trank einen kräftigen Schluck Wasser und stand anschließend auf, um wenigstens jetzt der netten Dame nicht mehr im Wege zu sein. Darauf bot er ihr als Entschuldigung an, den Sessel mit ihr zum Wagen zu tragen, wobei sie die Entschuldigung ablehnte, das Angebot jedoch dankend annahm. Flink packte er mit an um die Sache schnell hinter sich zu bringen; die ganze Situation war einfach zu unangenehm, um sich noch unnötig länger hier aufhalten zu müssen. Während die beiden zum Auto liefen, erzählte die Frau ihm noch die restlichen Umstände, die dazu geführt hatten, dass er jetzt am Abend noch hier draußen im Industriegebiet fest saß, denn sie waren ihm bis jetzt immer noch nicht eingefallen. Als alles verstaut war, suchte Peter sich schnell zu verabschieden um dieser maßlosen Peinlichkeit zu entkommen. Ihr Angebot, ihn mit in die Stadt zu nehmen, lehnte er ohne nachzudenken ab, gab ihr schließlich zum Abschied die Hand und wandte sich ab, um zu gehen. Doch nach wenigen Schritten schrie sie ihn noch einmal zurück. "Ach halt, warten Sie! Hier haben Sie doch noch ihre Schallplatte, die hätten wir jetzt beinahe vergessen." Überrascht kehrte er um, nahm die Platte entgegen und mit ihr kamen sämtliche Erinnerungen an den Tagesablauf wieder zu ihm zurück. Erst jetzt, als er über die letzten Stunden wieder bescheid wusste, nahm seine Beschämung die höchste Form an. Am liebsten wäre er an Ort und Stelle im Boden versunken oder überfahren worden, alles wäre besser gewesen, als in Anwesenheit dieser Frau seine Vergangenheit auf diese Weise zu erfahren. Mit dem Blick auf das Cover gerichtet, drehte er sich ein letztes Mal von ihr weg, wagte es nicht mehr ihr in die Augen zu sehen und lief davon. Sie war einfach zu gütig zu ihm, wenn man überlegte, was sie wegen ihm durchmachen musste. Da war den ganzen Tag ein alter, verkommener, stinkender Trinker auf ihrem antiken Sessel gekauert, hatte womöglich die Kundschaft verschreckt und angewidert und jetzt, als er am Ende des Tages seinen Rausch ausgeschlafen hatte, trug sie ihm noch ihr Wasser und seinen vergessenen Besitz hinterher. Das war falsch, das war nicht recht, sie hätte ihn dafür verfluchen, bestrafen und anschließend für immer hinfort schicken sollen, so dachte Peter, aber anstatt dessen empfing sie ihn mit offenen Armen und wollte ihn sogar noch nach Hause fahren. Aufgrund dieser Umstände fühlte er sich miserabel schlecht, fühlte sich des Lebens unwürdig und fühlte sich vor allem, als könnte er schleunigst ein kühles Bier gebrauchen. Mit aufgebrachtem Gemüt trat er im verklingenden Sonnenuntergang seinen langen Fußmarsch in Richtung der Innenstadt an, wobei er die Freuden des Nachmittags längst vergessen hatte. Auch die Ärgernis über sich selbst war schnell Vergangenheit, denn bald hatte die Sucht ihn komplett eingenommen, hatte ihm Verstand und Gefühle geraubt und ließ ihn als ein getriebenes Wesen zurück, ein Tier, das seinem Verlangen unterlegen war und nun auf Leben und Tod auf Nahrungsbeschaffung war.

Die ruhigen Fassaden der Fabrikgebäude setzten sich samt ihren hohen Schornsteinen schwarz im rötlichen Himmel ab, Vögel zwitscherten aufgeregt durch die dunklen Straßen; ein letztes Mal gab sich der Stadtteil der erholsamen Nacht hin, bevor morgen die Maschinen wieder angeschmissen wurden, damit die Industrie ihrer Pflicht nachgehen konnten. Auch die junge Wohnsiedlung war in friedliches Schweigen gehüllt. Die Straßen waren leer, in den Vorhöfen der gepflegten Grundstücke lagen noch vereinzelt Spielsachen umher, die alle auf ihre eigene Art und Weise die Geschichte eines fröhlichen Sonntages erzählten. Frischer, intensiver Duft drang aus den Beeten und Hecken der Gärten und schwängerte die Luft der gesamten Straße mit romantischem Dunst, den man in den kleinen Gassen und breiten Straßen der Innenstadt niemals zu riechen bekam. In den Häusern sah man glückliche Familien, die gerade zusammen aßen, ihre Kinder ins Bett brachten oder schon in lieblicher Zweisamkeit bei einem Glas Rotwein auf der Terrasse saßen und den sinnlichen Geheimnissen der Erwachsenen nachgingen. 
Es war eine gute Stunde um spazieren zu gehen und all diese Eindrücke zu sammeln, zu erleben und sich an ihnen zu erfreuen, doch Peter hetzte mit verbitterter Miene und eiligen Schritten durch die Straßen, komplett seinen Trieben unterworfen und nichts von alledem mitbekommend. Seine Wahrnehmung lief auf absoluter Sparflamme, ließ bloß die Dinge in sich aufnehmen, die zur Befriedigung der Sucht nötig waren und ignorierte alle anderen Eindrücke, die vom Erreichen des Zieles ablenkten. In Momenten wie diesen lebte er schon nicht mehr, sondern funktionierte nur noch, wie ein hilflos Verwundeter, der sich schonungslos auf seine innersten Instinkte verlässt um dem Tod durch Verbluten zu entkommen. Blindlings ließ er sich führen, schottete sich von allem ab, übergab seinen Körper und Geist komplett der höheren Macht, die ihn skrupellos dirigierte.
Auf diese Weise war es möglich, dass ihm der Zeitraum seines Fußweges, nur wie eine kurzer Augenblick vorkam. Kaum hatte er sich leidvoll auf dem Industrieparkplatz in Bewegung gesetzt, schwanden schon seine Sinne dahin, retuschierten sein Umfeld und machten Platz für die Intuition, von der er sich bis in die Innenstadt führen ließ. Erst als er in die Straße einbog, in der sich Andreas' Kneipe befand, kam sein Empfinden zurück und ließ ihn erkennen, dass sein Ziel schon in greifbarer Nähe war. Gleichzeitig bekam er aber auch wieder die Entzugserscheinungen zu spüren, die an allen Enden seines Körpers zerrten. Ein dumpfes, physisches Verlangen zog durch sämtliche seiner Glieder bis in den Kopf, wo es die geistige Leere mit brennendem Wahnsinn erfüllte. So schnell ihn seine steifen Knochen tragen konnten, hastete er die Straße entlang durch die einzelnen Lichtkegel der Laternen, während sich sein Blick krankhaft-verzweifelt auf die Leuchtreklame der ersehnten Kneipe fixierte. Schließlich kam der Moment, in dem er den alten Eisengriff der Tür zu fassen bekam, ihn nach unten drückte und wie ein Wilder in den Gastraum stürzte.
Die Kneipe war gut gefüllt, Andreas selbst saß pausierend bei Bekannten mit am Tisch und allgemein herrschte rege Unterhaltung, sodass Peters rasantes Eintreten nicht allzu viel Aufsehen erregte. Ein paar wenige Stammgäste grüßten ihn, auch Andreas winkte ihm zu, doch dies konnte er alles nicht beachten. Zielbewusst strebte er den Ausschank an, legte seine Schallplatte auf den Tresen und schon befand er sich mit einem Krug am Zapfhahn, den er mit irrsinnigen Augen dabei beobachtete, wie er das Bier mit außergewöhnlicher Langsamkeit ergoss. Sobald der Krug annähernd zur Hälfte gefüllt war, führte er in gierig zu seinem Mund, wobei er parallel dazu gleich den nächsten unter den fließenden Hahn hielt. Hustend, schäumend und sabbernd flößte er sich sein erstes Glas Bier ein und vergaß alle Welt um sich. Schon nach wenigen Sekunden konnte er die himmlische Entspannung spüren, die sich in ihm ausbreitete, die den Schmerz linderte und die für ihn Freude und Lebensinhalt definierte. Nach wenigen Zügen war der Krug wieder leer worauf er sich dem zweiten widmete.
Andreas saß während der ganzen Zeit noch am Tisch bei seinen Freunden, doch hatte er sich aus dem Gespräch ausgeklinkt und beobachtete stattdessen Peters Verhalten sehr aufmerksam, da er aufgrund des verspäteten Auftauchens zum Ausschankdienst schon böse Vorahnungen gehabt hatte. Er hatte noch keine Ahnung, was sich wirklich abgespielt hatte, doch konnte er an Peters Verhalten erkennen, das sein Leben einmal mehr aus den Fugen geraten war. Verzweifelt und mitleidig sah er seinem alten Jugendfreund dabei zu, wie er den Alkohol regelrecht in sich hineinstürzte, während ihm bewusst war, dass er nichts machen konnte. Einzig positiv war, dass Peter zu so später Stunde noch nicht komplett besoffen war, was definitiv eine Ausnahme darstellte, doch konnte man ihm dies nicht zu hoch anrechnen, da er ja gerade dabei war, mit allen Mitteln dieses Defizit auszugleichen. Erst heute früh hatte er ihn schweren Herzens stockbetrunken nach Hause schicken müssen, um ihn jetzt unter diesen Umständen wieder zu empfangen. Es war nicht leicht mit anzusehen, doch war er es ja gewohnt. Tägliche Enttäuschungen werden irgendwann nichtig, ständige Ausnahmen werden mit der Zeit zum Alltag, die Routine stumpft den Mensch ab und lässt ihn vergessen. So erhob sich Andreas um seinen Freund und Mitarbeiter zu begrüßen. 
Peter, dem es nach dem zweiten Glas Bier schon viel menschlicher ging, sah Andreas auf sich zukommen und ergriff sogleich die Initiative, da ihm bewusst wurde, dass er viel zu spät erschienen war. "Grüß dich! Mensch, entschuldige! Ich hab mal wieder komplett die Zeit vergessen... tut mir Leid. Bist du bis jetzt auch gut ohne mich zurecht gekommen?" Sein Chef winkte beschwichtigend ab, griff ihm um die Schulter und versuchte dabei ungezwungen locker zu wirken. "Na logisch, mach dir keinen Kopf. Passiert uns doch allen mal, oder? Wie war dein Tag? Woher kommt der große Durst?" Peter, der mit den zwei Bieren genau die Alkoholmenge intus hatte, die ihn sozial am verträglichsten werden ließ, empfand sofort Beschämung darüber, dass sein Kumpel sein übertriebenes Trinkverhalten bemerkt hatte. "Ach..weißt du. Ich war heute auf dem Flohmarkt und habe die Zeit etwas vergessen. Ehe ich mich umsah, ist es dunkel geworden und ich war immer noch draußen bei der alten Maschinenfabrik. So kam es, dass ich den gesamten Tag nichts getrunken hatte...und daher mein Durst." Diese glimpfliche Geschichte erleichterte den Wirt, der sich aufgrund seiner Erfahrung schon auf eindeutig schlimmere Szenarien gefasst gemacht hatte. "Ahja, schön, schön. Daher auch die Platte, hm?" Erst in diesem Moment kam Peter sein stolzer Erwerb des Tages wieder in Erinnerung. Erfreut sah er die Platte da liegen, griff nach ihr und betrachtete sie mit kindlicher Freude zum ersten mal ganz genau. Begeistert hielt er sie auch Andreas hin, damit er sie begutachten konnte. Doch dieser interessierte sich gar nicht wirklich für die LP. Peters gute Stimmung und seine gesprächige Verfassung, die eine seltene Ausnahme darstellten, erfreuten ihn und ließen in ihm erneut eine Hoffnung auf Besserung erwachsen. Nur um Peter nicht zu enttäuschen gab er ihm trotzdem begeistert Antwort: "Hey, Pink Floyd! Nicht schlecht, nicht schlecht! Wie du weißt konnte ich die zwar noch nie wirklich leiden, aber das Album kenne ich noch gar nicht. Ich würde sagen, die legen wir gleich mal auf, wenn die aktuelle Scheibe zu Ende ist, oder?" Beglückt von dieser Idee, nahm Peter die Platte zurück, stellte sie hinter dem Tresen ins Regal und bat Andreas doch wieder zurück zu seinen Freunden zu gehen, da er jetzt vorerst den Bardienst übernehmen würde. Doch sein Freund hatte noch etwas einzuwenden: "Mache ich gleich, eine Frage habe ich noch: Was hast du denn heute früh, nachdem du von hier gegangen bist, noch gemacht? Ich habe vorhin beim Einkaufen den David getroffen, du weißt schon, deinen alten Klassenkameraden. Er hat mir erzählt, du hättest dich heute früh beim Rathaus rumgetrieben und hast miserabel ausgesehen? Bist du nicht direkt heim gegangen?" Verlegen wandte sich Peter ab und begann notgedrungen Gläser durch das Spülbecken zu ziehen. "Ach, der übertreibt doch wieder. Ja, ich bin noch nicht direkt nach Hause, weil es mir nicht so gut ging. Ich dachte, die frische Luft würde mir gut tun. Dann habe ich noch eine kleine Runde durch die Stadt gedreht und ihn getroffen. War aber nichts besonderes. Die Zeit nagt doch an uns allen, er sieht auch längst nicht mehr so frisch aus wie einst mit zwanzig Jahren. Der soll sich um seine eigenen Probleme kümmern..." Darauf wusste Andreas nichts mehr zu sagen. Zwar spürte er, dass hinter der Sache mehr steckte als Peter hier offenbarte, doch er wusste nur zu gut, dass er besser nicht tiefer in die Wunde bohrt, um eine unnötige Eskalation zu vermeiden. Also gab er klein bei, akzeptierte die Version der Geschichte und begab sich wieder zu seinen Stammgästen. Als Peter seinen Freund zurück am Tisch, in das Gespräch vertieft fand, füllte er seinen Krug erneut, gönnte sich davor noch einen kurzen Kräuterbitter und wandte sich dann ernsthaft seiner Arbeit zu, spülte die Gläser und ging dann und wann von Tisch zu Tisch um auch den Durst der Gäste zu stillen. Dabei erfreuten ihn die Vertrautheit mit den Gästen und die kleinen, aber wichtigen Aufgaben die er hier übernahm um den Laden am Laufen zu halten, sodass er sich selbstverloren seiner Tätigkeit hingab, bis er das Verstummen des Plattenspielers wahrnahm. Sofort holte er voller Vorfreude seine LP, enthüllte sie zum ersten Mal und legte sie schließlich auf den Plattenteller, der sie treu und erwartungsvoll entgegennahm. Mit entzückter Feierlichkeit legte er den Arm sanft auf die schwarze Scheibe, was jedes Mal aufs Neue wie ein magisches Ritual war. Das obligatorische, leise Knistern erfüllte kurz den Raum, schwächte wieder ab und schließlich schwoll langsam, doch stetig das altbekannte, vertraute Dröhnen an. Peter schloss die Augen, stütze sich mit beiden Händen auf das Pult und genoss mit historischer Ergriffenheit wie der Schlagzeugbeat und schließlich die kreischenden Gitarren einsetzten, die er seit späten Jugendjahren nicht mehr gehört hatte. Die Musik erfüllte ihn, nahm seine Aufmerksamkeit komplett in Anspruch und ließ ihn Freuden spüren, die ihm lange versagt gewesen waren. In seinem Geist durchwanderte er unbekannte und doch altvertraute Welten, die die Musik in ihm heraufbeschwor. Er sah sich selbst in frühen Jahren wie er seine Freundin beim Bäcker kennen lernte, wie sie sich anfreundeten und sich immer näher kamen, und schließlich, wie er sie im Laden ihres Vaters zum zweiten Mal kennen lernte, diesmal richtig. Es war wie ein Flashback zurück, in alte, heile Tage in denen die Zeit bedeutungslos war und die ganze Welt in hoffnungsvollem Glanz leuchtete. Mit dem Verstummen des ersten Liedes schwand auch der erste, überwältigende Zauber wieder von seinen Gliedern. Grinsend öffnete er die Augen und fühlte sich dabei wie ein neugeborener Mensch. Für lange Zeit hatte er nicht mehr gewusst, wie mächtig und fesselnd diese Lieder waren, umso mehr ergriffen sie ihn jetzt. Vom Zauber der Platte überwältigt, wandelte er hinter den Tresen, suchte sich eine Zigarette und ging nach draußen um all die Gefühle zu sortieren, die sich plötzlich in ihm regten. Er schnappte sich einen Stuhl, klemmte den Holzkeil in die Tür um die Musik auch draußen weiter zu hören und setzte sich vor den Eingang auf den Gehsteig. 
In der Straße war es totenstill, lediglich die verheißungsvollen Melodien drangen von innen nach außen und verklangen schnell in der friedlichen Dunkelheit. Kalte Luft wehte seicht durch die Häuserreihen, doch die Wände strahlten kontinuierlich ihre gespeicherte Wärme ab, sodass es sich trotzdem gut verweilen ließ. Über den Häusern ruhte kühl und unergründlich der klare Sternenhimmel. Die tiefe Stille der schlummernden Kleinstadt tat Peter gut, denn in seinem Kopf überschlugen sich Erinnerungsfetzen, Gefühle und Gedanken. Dass er diese Lieder nach so langer Zeit wieder hörte, ließ ihn zum ersten Mal seit dem Unglück seiner Frau und seines Sohnes wieder den unaufhaltsamen Gang der Zeit begreifen. Seit diesem tragischen Einschnitt in sein Leben hatte er sich jeden Tag erneut in den Rausch geflüchtet und dadurch selten Gelegenheit dazu bekommen, über so tiefgründige Dinge nachzudenken. Die letzten Jahre konnte er in tröstlicher Unwissenheit zubringen, ohne sich über irgendetwas Gedanken machen zu müssen. Jeder Tag war nach selben Schema zwischen Schlaf, Arbeit und Rausch dahingeplätschert. Selbst wenn es Veränderungen in seinem näheren Umfeld gegeben hatte, wurden sie bald vergessen oder verdrängt, sodass er sich über die Jahre hinweg ein sicheres Refugium angelegt hatte, in das er seinen zerbrechlichen Charakter sanft einbetten konnte. Doch jetzt, als er in verhältnismäßig geistiger Klarheit die alten, bedeutungsvollen Melodien zu hören bekam, überfielen ihn all diese Dinge auf einen Schlag, die seit Jahren in den Tiefen des Alkohols unterdrückt worden waren. Nun, als er durch den zeitlosen Klang alten Lieder wieder ein Gefühl für die Zeitspanne bekam, die seit dem ersten Hören schon vergangen war, als ihm wieder bewusst wurde, welch enormen Zeitraum sein Leben schon umfasste, in dem er doch noch nichts Nennenswertes erreicht hatte, da fiel sein geistiges Refugium wie ein großes Trugbild über ihm zusammen. All die verlorenen, verschwendeten Jahre kamen ihm zu Bewusstsein, in denen er nichts getan hatte, als dem Leben zu entflüchten, anstatt sich von ihm fangen und mitreißen zu lassen. Wo war die Zeit hingelaufen? Wo war die Jugend hingerannt? Wo war sein Leben hingeschwunden? Diese Fragen kamen in Form von großen Vorwürfen auf ihn nieder und lasteten bedrückend auf ihm. Schwere Niedergeschlagenheit überkam ihn wie ein großer, angestauter Schwall aus zehn Jahren unterdrückter Midlifecrisis. Er versank in seinen eigenen Vorwürfen, verlor seine Umwelt aus den Augen, bekam unbändigende Lust sich sofort ins Vergessen zu trinken, sein Leben schwankte zwischen ausweichloser Endstation und hoffnungsvollem Neubeginn. Seine surreale Welt brach zusammen während sie sich aus ihren Trümmern neu erbaute. Und in diesem Moment der zerstörenden Verzweiflung, der aufbrausenden Hoffnung, der innerlichen Entzweiung, verstummte im Innenraum der Kneipe die Musikanlage, holte kurz Luft für die nächsten Töne und stimmte schließlich die ersten Klänge des dritten Liedes von Peters Platte an. Verschwommen, und doch gleichzeitig so klar, wurden sie durch die hitzigen Gespräche des Kneipenraums nach draußen befördert, suchten Zuflucht im kalten Raum der düsteren Straße, und fanden sie in Peters Gehör. Sofort begriff er, dass er nicht nur hilflose Musik, sehnsüchtige Melodien der Jugend oder altersehnte Lieder hörte. In diesem Moment ergriff ihn sein jahrelanger, alltäglicher Begleiter, den er stets mit sich getragen hatte, den er in jedem, in wirklich jedem Moment, seines traurigen Trinkerlebens bei sich hatte. Es waren die Melodien, zu denen er zum ersten mal die leidenschaftlichen, feuchten Geständnisse seiner Freundin zu hören bekam. Es waren ebenso die Klänge, zu denen er im Plattenladen des Vaters seine Jugendliebe die ersten Zärtlichkeiten der Frauen erfahren hatte. Und es waren auch die Klänge, die ihm am Morgen dieses wirren Tages verhängnisvoll durch die Gehirnwindungen geschallt waren, die er zu dem Zeitpunkt jedoch noch nicht deuten konnte. Wie ein großer Schwall an Lebensfreude stiegen die Töne in ihm auf, erfüllten seine verwirrten Gedanken mit strukturierter Klarheit und gaben seinem Wesen den Frieden zurück, den er über all die Jahre im Unterbewusstsein gesucht hatte. 

"Bridges burning gladly,
merging with the shadows,
flickering between the lines."


Die ersten Worte schwebten erlösend nach draußen und hauchten ihm den Schleier von seiner Wahrnehmung, der ihn seit Jahren belastete und ihm suggeriert hatte, das Unvergessliche vergessen zu können. All diese schweren, großen Wörter und Zeilen waren seit seiner Jugend in seinem Kopf gefangen gewesen und begleiteten ihn auf sämtlichen Holzwegen seines Lebens, doch bewusst ist er sich ihnen nie geworden; im Gegenteil war er die ganze Zeit indirekt auf der Suche nach ihnen gewesen. Auf schicksalhaften Wegen kamen diese Melodien und Texte jetzt wieder zu ihm zurück und überrumpelten ihn auf erfrischende, beglückende Weise. Zum einen zeigten sie ihm in ziemlich brutaler Art, wie viel er von seinem Leben schon verspielt hatte und vor allem wie sinnlos er die letzten Jahre vergeudet hatte, doch hauptsächlich begriff Peter durch die alten Lieder und ihren unglaublichen Weg, den sie zu ihm zurückgenommen hatten, wie unberechenbar jeder Moment ist, und wie schnell sich alles wieder ändern kann. Er begriff, dass es niemals zu spät ist, solange man an sich selbst glaubt und sich nicht widerstandslos seinem Schicksal hingibt. Dass ihm, trotz dem er sich selbst längst aufgegeben hatte, dieses Wissen doch noch gewahr wurde, erfüllte ihn mit gewisser Ehrfurcht und auch mit dem Bewusstsein, in einer Pflicht zu stehen, dem Leben etwas zu schulden und zurückgeben zu müssen. Von dieser Erkenntnis überwältigt saß er wie gelähmt vor der Kneipe in der einsamen Nacht. Drinnen saßen die gleichen Leute, ihn umgaben die gleichen, alten, bekannten Häuser, auch die Sterne wirkten alt und vertraut, doch für Peter war in diesem Augenblick nichts mehr beim Alten. Alles war frisch, strahlte vor grenzenlosen Möglichkeiten und machte Hoffnung auf die Zukunft. Intuitiv ergriff er sein Bier, das am Boden stand, stellte es auf seinen Beinen ab und sah es ehrfürchtig an. Hier war der Teufel, der ihn für den Großteil seines Lebens begleitet hatte und der dafür verantwortlich war, dass es so kam wie es gekommen war. Verfluchen konnte er den Alkohol trotzdem nicht, denn schließlich hatte er beim Verlauf dieses Tages auch maßgeblich seine Finger im Spiel gehabt und war also dafür mitverantwortlich, dass er jetzt hier mit diesen neuen Erkenntnissen saß. Doch Peter war sofort klar, dass dem ganzen hier und jetzt ein Ende gesetzt werden musste. Es gab keinen anderen Weg, als seine Brüderschaft mit dem Alkohol für immer zu zertrennen. In sentimentaler Stimmung nahm er einen Schluck Bier und war sich währenddessen bewusst, dass dies das letzte Bier seines Lebens sein würde. Er war bereit, alles herzugeben und sich komplett von allen alten Gewohnheiten zu trennen um endlich eine wahre Heimat für seine wüste Seele zu finden. Gedankenversunken rauchte Peter die Zigarette zu Ende, trank das Bier aus und ging dann mit lange unterdrückter Heiterkeit und Lebensfreude zurück in die Kneipe. In seinen Augen funkelte dabei etwas neues, verheißungsvolles, das bis dahin noch nie jemand an ihm entdeckt hatte. Und dieses Funkeln war die Aussicht auf eine goldene Zukunft, war wiedergewonnene Lebensfreude, war bedingungslose Zuversicht und war das schelmische Grinsen der Wissenden, die das Leben verstanden hatten. So ging er als ein neuer Mensch in die alten, gleichen Räume mit den alten, gleichen Personen und ihren alten, gleichen Angewohnheiten zurück. Doch zum ersten Mal tat er dies mit dem Wissen im Hinterkopf, dieser Welt schon gar nicht mehr anzugehören, ihr für immer entflohen zu sein und ab sofort mit jedem Schritt einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Die Wandlung war vollbracht.

Mittwoch, 23. Juli 2014

Auf den Irrwegen der Zeit, Teil 3/4

Erst als er knappe fünfzig Meter von ihnen entfernt war, nahm er die vielfältigen Geräusche einer größeren, geschäftigen Ansammlung von Leuten wahr. Halb enttäuscht und halb neugierig wurde er aus seiner schützenden Traumwelt gerissen. Das Funkeln aus seinen Augen verschwand und ließ ihn verwirrt und bemitleidenswert aussehen, wie ein Kind, das gerade aufgeweckt wurde und mit den Gedanken noch halb im Schlaf verloren ist. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er der Sonne entgegen in die Richtung, aus der er den Lärm vernommen hatte. Dort konnte er hauptsächlich Personenpaare entdecken, die sich unterhielten. Viele Tische waren da aufgebaut, die mit undefinierbaren Dingen belegt waren und einige Autos parkten um die Szenerie herum. Eine angenehme, freundliche, beinahe einladende Stimmung wehte von dem Geschehen aus durch die Straße und entzündete in Peter die Neugierde auf die Menschen zuzugehen und herauszufinden, was dort vor sich ging, was normalerweise gar nicht seine Art war. Schnell trank er im Schutze eines Baumes sein Bier aus, um nicht sofort in der Gesellschaft Anstoß zu erregen und begab sich dann leise, unauffällig und mit nebensächlicher Miene in Richtung der Leute. Umso näher er kam, desto intensiver empfing ihn die seltsame Stimmung, die da vorne herrschte. Es war die Gesamtheit sämtlicher Eindrücke, die diese Gemeinschaft aussendete, die in ihm ein vertrautes Erinnern an die alten Zeiten auslöste. Der Großteil der Anwesenden war in seinem Alter, hatte die Umgangsformen und Redensarten zu eigen, die früher, zu seinen Schulzeiten, in Mode waren und die meisten von ihnen unterhielten sich auch über längst Vergangenes. Als er sich schließlich auf der anderen Straßenseite auf nahezu gleicher Höhe des Geschehens befand, konnte er die Mengen an größtenteils unbrauchbaren Trümmern erkennen, die auf und vor den Tischen der Leute lagen. Sofort erkannte er, wo er hier gelandet war. Der sonntägliche Flohmarkt, den er schon zu Kindeszeiten besucht hatte, war in vollem Gange. Seit Ewigkeiten war er nicht mehr hier gewesen, da er zu dieser Tageszeit normalerweise zuhause, hinter zugezogenen Rouleaus, im Tiefschlaf ruhte, um die bösen Geister auszuschwitzen. Doch die kindliche Begeisterung für das Durchstöbern fremden Eigentums und die Chance auf den Fund eines kleinen, kostbaren Schatzes überkam ihn sofort wieder und so mischte er sich voller Eifer unter die Menschen. Aufmerksam passierte er die ersten Stände ohne sich ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen. Vielmehr nutzte er sie dazu um die gemeinschaftliche, doch auch konkurrierende Stimmung einzuatmen, die hier wie eine große, unwirkliche Wolke alles umhüllte. Auf den ersten Blick harmonierten alle Verkäufer sowohl untereinander, als auch mit den Besuchern, klopften sich gegenseitig auf die Schultern, lachten miteinander und zeigten tolerante Freundlichkeit. Doch sah man genauer hinter das Geschehen, so erkannte man den nackten, skrupellosen Konkurrenzkampf mit dem sich die Verkäufer gegenseitig die Kundschaft vertrieben und sie gleichzeitig durch simple, doch wirkungsvolle Phrasen an die eigenen Waren banden. Schon als kleiner Junge ist ihm dieses seltsame Verhalten aufgefallen, doch mit seiner kleinen, unbefleckten Menschenkenntnis konnte er nicht erahnen, was hier vorging, egal wie sehr er versuchte, sich in die Erwachsenen hineinzuversetzen. Jetzt, da er vom Leben gezeichnet war, wünschte er sich sehnlichst, von alledem nichts zu wissen und mit reinem, ahnungslosen Verstand durch die Welt spazieren zu können. Doch an diesen Problemen der Händler hielt er sich nicht auf, sondern er konzentrierte sich auf ihre mannigfaltigen Waren, die aussahen, als hätten sie alle eine individuelle Geschichte zu erzählen. Das Bier, das er vor wenigen Minuten nahezu in einem Zug geleert hatte, begann nun seine angenehme Wirkung zu verbreiten, gab den alten, funkelnden Gegenständen einen samtenen Schimmer und ließ ihm das lang vergessene Glück eines Flohmarktes wie einen Traum vorkommen. In seliger Vollkommenheit schlenderte er voran, begutachtete mit oberflächlichen Blicken die endlosen Tische voll unscheinbaren Dingen und war dabei so freudig wie seit Langem nicht mehr. Er sah verzweifelte Ansammlungen von defekten, unnützen Gegenständen, die nach chaotischem Schema aufgebaut waren. Da waren vergilbte Bücher, alte Schallplatten, größtenteils defekte Elektrogeräte, abgetragene und ausgewaschene Kleidungsstücke, einige, größtenteils aus dem Realismus stammende Bilder, zahllose Kisten voll kleinen, unverwendbaren Gegenständen und andere, weniger häufigere Dinge, wie Gitarren, Fahrräder oder Kleiderschränke. Beim Großteil der zu verkaufenden Waren, war sowohl den Käufern als auch den Kunden fraglich, wer für diese Dinge ernsthaft einmal Geld bezahlen sollte, doch darin lag einer der besonderen, unterschwelligen Reize des Flohmarktes. Die Kunden schmunzelten heimlich über die Einfalt der Verkäufer, diese Dinge tatsächlich anzubieten, und die Verkäufer nutzen die Magie des Flohmarktes und ihre Eloquenz um ihre Kundschaft zu verzaubern und ihnen schließlich doch etwas anzudrehen. So wanderte Peter von einem Tisch zum nächsten und beobachtete alle Geschehnisse mit großer Aufmerksamkeit. Dabei sprachen ihn sogar manche offensive Händler darauf an, dass er sich doch mal bei ihrem Stand umsehen sollte, doch er war dermaßen in Trance versunken, dass er diese Handlungen gar nicht wahr nahm. Stattdessen beobachtete er verschiedene Väter mit ihren Söhnen, wobei die Jungen andauernd mit anderen faszinierenden Gegenständen die Väter belästigten, was ihn stark an seine eigene Vergangenheit erinnerte. Er sah Großmütter mit ihren Enkelinnen, die gedankenverloren in Puppenhäusern stöberten oder sich würdevoll in verschiedensten Kleidern vor alten Spiegeln drehten und sich dabei selbst begutachteten. Außerdem fand er mehrere Kleinfamilien, ältere Ehepaare und dazwischen waren vereinzelt seltsame Typen unterwegs, die aussahen als würden sie nichts suchen, doch alles finden und die auf die Außenstehenden wirkten, als würden sie aus dem Nirgendwo kommen und sofort hinter dem nächsten Stand wieder für immer verschwinden. Zu diesen gehörte er auch, was ihm allerdings nicht bewusst war. Doch was ihm auffiel, war, dass die Vater-Sohn und Oma-Enkelin Paare am häufigsten vertreten waren, was er sich damit erklärte, dass dies die jeweils einzigen Kombinationen von Familienmitgliedern sind, bei denen beide Teilnehmer wussten, dass der andere sich nicht über die Einkäufe beschweren würde. 
Die letzte Menschensorte, die hier noch anwesend war, waren die Verkäufer. Diese überblickten ihre wertlosen Schätze mit wehleidigen Augen und hatten allesamt mit einem Gewissenskonflikt zu kämpfen, der zwischen dem geschäftsmännischen Verkaufstrieb und dem sentimentalen Festklammern an ihren Besitz ausgetragen wurde. Ihr Leben lang hatten sie gearbeitet und geschwitzt um sich diesen Kram zusammenzukaufen und schließlich kam die große, altersbedingte Einsicht, die sie von der Sinnlosigkeit ihres Besitzes überzeugte und sie schließlich hierher führte. Jeder Tisch erzählte eine eigene Geschichte seines Verkäufers. Sämtliche Gegenstände verrieten ein anderes Geheimnis ihres Besitzers. Doch die erfahrenen Verkäufer verwischten diese schonungslose Enthüllung ihrer nackten Persönlichkeit mit ihren geschickten Redeweisen und lullten jeden Passanten in schöne Worte, sodass sie entweder verlegen weiterliefen, oder noch verlegener stehen blieben um schließlich irgendetwas zu kaufen.
Im nostalgischen Schein unzähliger Relikte aus vergangen, goldenen Zeiten verunsicherten die listigen Händler ihre Kunden bis diese nachgaben und irgendetwas kauften. Am Abend gingen beide Parteien, froh über den Gewinn, den sie gemacht hatten, zurück in ihre reale Welt, verspürten ein flaues Ziehen in der Magengrube und trauerten dabei dem primitiven Handeln, dem spitzfindigen Feilschen und der kindlichen Begeisterung für Lappalien, die hier akzeptiert wurde, hinterher. So ist der traurige Glanz zu beschrieben, den Peter an diesem Ort empfand. Das war das komplette, magische Geheimnis, das sich hinter dem Flohmarkt verbarg, von dem jedoch niemand bewusst eine Ahnung hatte, außer Peter und die wenigen anderen Außenseiter. 
So schlich er teils in kindlicher Freude, teils in melancholischem Beobachten, durch die unbekannten Menschen und begann allmählich bestimmte Stände ins Visier zu nehmen, die ihm besonders reizvoll erschienen. Dem ersten näherte er sich mit möglichst uninteressierter Miene und bückte sich ganz beiläufig unter den Tisch um dem lästigen Gerede des Verkäufers aus dem Weg zu gehen. Einige vielversprechende LP-Covers blickten ihm da unten entgegen, also begann er eine erste Kiste voll alter Schallplatten zu durchforsten. Die Sammlung traf seinen Musikgeschmack ganz gut, so verlor er sich ziemlich schnell zwischen den modrigen Platten und bemerkte nicht, wie der Verkäufer um seinen Tisch herum kam um eine seiner Verkaufsstrategien auf ihn loszulassen. Gerade als Peter eine Platte besonders genau betrachtete und sogar herausnahm um die Rückseite zu begutachten, platzte der Besitzer los: "Sehr gutes Album! Sollte ein jeder in seinem Leben mal gehört haben! Kennen Sie Hunky Dory schon?" Wie eine Seifenblase zerplatzte Peters Scheinwelt, warf ihn zurück in die Realität und ließ ihn hilflos und nackt dort auf dem Boden knien. Verlegen sah er zur Seite in die Richtung des Käufers und stammelte vor sich hin: "Was? Oh ja! Ääh, nein, ich meine Nein, natürlich nicht." Doch ohne Rücksicht preschte der Andere weiter, wobei er wie ein amerikanischer Fastfoodverkäufer grinste. "Na! Das sollten sie aber schleunigst ändern! Auch wenn es mir sehr schwer fallen wird, mich von diesem edlen Stück zu trennen. Sie müssen wissen, das ist eine japanische Erstpressung! In Deutschland ist die eine echte Rarität..." So plätscherte sein geübter Redeschwall dahin, über unzähliges Gerümpel hinweg, in Peters Richtung. Doch dieser hatte längst abgeschalten und war in Gedanken schon abwesend. Ein alter, lange vergessener Schutzreflex hatte sich bei ihm bemerkbar gemacht, den er sich schon in Kindheitstagen auf dem Flohmarkt angeeignet hatte und der immer noch tadellos im richtigen Moment zur Hilfe kam. Sobald er wirres, prahlerisches oder hinterhältiges Gerede eines Halsabschneiders wahrnahm, verschloss sich sein Geist, schottete sich komplett von der Umwelt ab und ermöglichte es Peter, komplett gewissenlos dieser Situation zu entkommen. So missachtete er die Plattitüden, die immer noch über ihn hinabrieselten, steckte dabei die Platte zurück an ihren Platz, stand vorsichtig auf, nuschelte besänftigende, doch ablehnende Worte zu seinem Kontrahenten, und wandte sich schließlich langsam ab und schritt davon, ohne überhaupt darauf zu achten, ob er noch ins Gespräch verwickelt war. 
Hastig zog er davon, ohne auf die Sätze, die ihm noch hinterhergeworfen wurden, zu achten. Mit aufgesetztem Tunnelblick schlängelte er sich durch die Menschen, ohne ein Ziel anzustreben, nur um der Falle zu entkommen. So sehr er die Flohmärkte auch verehrte, dies war ihr großer Schwachpunkt. Sobald man nur den Hauch von Interesse für irgendetwas zeigte, wurde man von den zugehörigen Eigentümern bequasselt, als würde es um ihr Leben gehen. Niemals konnten sie einen in Ruhe lassen und so ist es nicht selten vorgekommen, dass sie ihm durch ihr penetrantes Auftreten den Frieden des Trödelbesuchs zerstörten. Doch für heute war er noch nicht entmutigt; zu lange war er schon nicht mehr hier gewesen. Als er weit genug geflüchtet war, um sich wieder sicher zu fühlen, verlangsamte er seine Schritte und besann sich erneut auf die Ausstellungsstücke. Da war ein Stand, der mit alten, fernöstlichen Blechschalen überhäuft war, die im Sonnenlicht phantastisch schimmerten. Für kurze Zeit blieb er stehen und sah sich das Schauspiel an, das durch seine getrübte Wahrnehmung noch verstärkt wurde. Doch nach wenigen Momenten wurde ihm dabei schwindelig und unwohl zumute, also ging er rasch weiter um sich der ernsthaften Suche nach etwas Brauchbaren zu widmen; schließlich wollte er hier nicht mit leeren Händen verschwinden. Wenige Meter weiter fand er den nächsten Tisch auf dem einige Kisten voll Platten standen. Mit gleicher Taktik schlich er sich unauffällig an und begann sofort seinen Blick zwischen den bunten Covers zu vertiefen. Gespannt griff er sich von einer zur nächsten Platte vor, stets mit der überzeugten Hoffnung in den Fingern, hinter der nächsten Platte eine Perle zu entdecken. Erneut überkam ihn der kribbelnde Reiz des Suchens und des Findens, der bei Männern vom ersten bis zum letzten Lebensjahr stets Auslöser für die glückbringendsten Momente ihres Lebens ist. Aber auch hier wurde ihm diese Freude nicht lange gegönnt. 

"Guter Mann, suchen sie etwas Bestimmtes?" erklang es direkt vor ihm, auf der anderen Seite des Tisches. Verzweifelte Niedergeschlagenheit überfiel ihn, und die Frage, ob es in dieser Welt nicht mehr einen Platz gab, an dem er sich wohl fühlen konnte, stieg sofort in ihm auf. Doch erst wenige Sekunden später erfasste er die Situation komplett und realisierte die weiche, zauberhafte Frauenstimme, die ihn soeben angesprochen hatte. Erstaunt hob er seinen Blick zu der Person die vor ihm stand und fand tiefe, grüne Augen, direkt vor ihm. Da stand eine Frau, wie er sie seit seiner späten Jugend nicht mehr getroffen hatte. Sie hatte eines der hübschesten Gesichter, das er je gesehen hatte, war ungefähr in der Mitte der Dreißiger und strahlte ihn an, als würde sie ihren Ehemann seit Jahren wieder sehen. Ihr dunkelbraunes, schimmerndes Haar glitt weich auf ihre Schultern und stand in besonderem Kontrast zu ihrer blassen Haut. Ihre Lippen hauchten jedem Satz eine unterschwellige, verheißungsvolle Melodie ein und ihre gesamte Ausstrahlung fesselte seinen Blick an sich, wie es in seinem Leben bisher nur eine andere Frau geschafft hatte. Verzaubert stand er da und kam sich wie im Märchen vor. Während er die Frau träumerisch-grinsend anstarrte, fragte sie erneut mit übertriebener Freundlichkeit: "Kann ich ihnen irgendwie weiterhelfen oder wollen sie einfach meine Sammlung durchstöbern?" Dabei begriff Peter gar nicht, dass sie ihm angeboten hatte, ihn wieder alleine zu lassen, was er unter normalen Umständen auch gerne angenommen hätte. Von ihrer vollkommenen Schönheit komplett eingenommen, stand er da und hörte ihre Worte nur ganz leise und gedämpft, als wäre er unter Wasser. Sämtliche Gefühle waren ausgelastet, überschwemmten ihn, berauschten ihn, sodass er für weitere Sinneswahrnehmungen wie betäubt war. Ohne den Sinn eines ihrer Worte verstanden zu haben stammelte er zwanghaft vor sich hin. "Oh, Hallo! Ich glaub ich bin schon fündig geworden, beziehungsweise..eigentlich nicht. Eigentlich suche ich..ähm..wie hieß es doch! Ja, Hunky Dory suche ich! Wobei.." Selbst die Sinnlosigkeit seines Geredes konnte er nicht wahrnehmen, da er von ihrem Glanz geblendet und von ihrer Ausstrahlung überwältigt war. Mit belustigter Fürsorge bemerkte sie seine Verwirrung und kam ihm zur Hilfe: "Oh, Sie stehen auf David Bowie? Da muss ich sie leider enttäuschen. Obwohl ich seine Musik sehr verehre, besitze ich lediglich Station to Station von ihm. Aber bestimmt können sie noch etwas anderes Hübsches in meinem Repertoire finden." Die Worte hallten wie aus weiten Fernen in sein Innerstes. Als würde er in einer der Ecken der riesigen Fabrikhallen von vorhin stehen, und die Stimme der Frau aus einer anderen Ecke erklingen, so kamen die Worte in einzelnen Wellen zu ihm hinübergeweht. Peter wurde lediglich bewusst, dass jemand zu ihm sprach, doch der Sinn ihrer ruhigen, einfühlsamen Worte blieb ihm versagt. Der Zauber, der von den alten Platten ausging, der Alkohol, der allmählich seinen Tageshöhepunkt erreichte und die Offenherzigkeit der Frau, die ihm vertraut entgegengrinste, überwältigten ihn dermaßen, dass er nicht den leisesten Schimmer hatte, wie er nun reagieren sollte. Zwanghaft begann er wieder etwas vor sich hinzustottern, ohne überhaupt zu versuchen, einen Sinn hinter die Worte zu bringen. "Das macht gar nichts, Hunky Dory habe ich sowieso schon zuhause. Dylan darf einfach in keiner Plattensammlung fehlen, meinen sie nicht?" Verdutzt, doch immer noch belustigt, begann die Verkäuferin seine Trunkenheit zu bemerken. "Dylan? Sie meinen wohl David Bowie? Wobei das ja eigentlich auch egal ist, Recht haben sie in beiden Fällen. Nun gut, dann lass ich sie jetzt einfach noch ein bisschen in Ruhe herumstöbern und wenn sie eine Frage haben wenden sie sich bitte an mich." Daraufhin schenkte sie ihm ein letztes, strahlendes, intensives Grinsen und wandte sich ab um am anderen Ende des Tisches einige Holzfiguren zu sortieren. Somit ließ sie Peter hilflos und in tragischer Apathie zurück, unfähig logisch zu handeln. Sein Bewusstsein war weit entfernt, von ihrem Zauber entführt, und unkontrollierbare Gefühle belagerten seinen Kopf, sodass für sinnvolle Gedanken kein Platz war. Für lange Zeiten hatte er derartig starke Gefühlsregungen unterdrückt und nicht zugelassen, aus Schutz vor sich selbst, doch das vorherige Schwelgen zwischen den Platten, hatte ihn unaufmerksam gemacht, sodass er schutzlos von den Reizen der lange vergessenen Frauenwelt überfallen worden ist. Ohne zu wissen was er ursprünglich hier gesucht hatte, was sie ihm gesagt hatte oder was er nun machen wollte, zog er sich in der Manier seiner frühen Jugendjahre, in denen er nie verstand, mit Frauen umzugehen, wortlos zurück. Die Kiste mit den Schallplatten ließ er unaufgeräumt zurück, was die Besitzerin zwar bemerkte, doch kommentarlos und mit einem mitfühlenden Lächeln akzeptierte, da sie sein Veralten mit seiner Trunkenheit erklärte. In Trance wandelte Peter weiter, gewann mit zunehmender Entfernung zur Frau seine kognitiven Fähigkeiten wieder zurück und begriff allmählich die vergangene Handlung. Eine Mischung aus Scham und Selbstverachtung überkamen ihn, als er sein törichtes Verhalten erkannte. Wieso war er selbst im Alter noch nicht fähig, mit Frauen ein normales, bodenständiges Gespräch zu führen? Wieso missachteten ihn die meisten Leute und wieso versaute er es sich bei den wenigen, die es nicht taten? Sein alter Schulfreund mit seiner Frau, die Wirtin in der hübschen Kneipe und schließlich die nette, bezaubernde Dame auf dem Flohmarkt, alle hatten sie ursprünglich gute Absichten, waren ihm freundlich gestimmt und trotzdem hatte er es zustande gebracht, sich derart zu beschämen, dass er sich bei keinem von ihnen jemals wieder blicken lassen konnte. Diese Fragen beschäftigten ihn, allerdings nur sehr oberflächlich, denn sein Empfinden war größtenteils noch von der Ausstrahlung der Frau paralysiert. So ging er, trotz dieser Gedanken, stetig voran und wurde schon bald vom nächsten Verkaufsstand angezogen. Hier war der Besitzer mit einigen anderen Kunden beschäftigt, sodass sich Peter ungestört der Plattensammlung widmen konnte um sich in ihr zu verlieren und damit seinen Fauxpas zu vergessen. Oberflächlich durchblätterte er die alten Kisten, wobei er nicht die Feierlichkeit empfand, die er beim Stand zuvor empfunden hatte, da sein Geschmack bei dieser Sammlung nicht sehr gut getroffen wurde. Erwartungslos, doch trotzdem vergnügt arbeitete er sich durch die Kisten, fand dabei die nötige Entspannung die nach dem jüngsten Erlebnis arg nötig war und genoss die bedingungslose Freude, die man hier haben durfte. Da huschte ganz plötzlich zwischen den ganzen unbekannten Schlagerplatten ein bekanntes Cover unter seinen Fingern hindurch, wobei er vorerst nicht erkannte um welches Album es sich dabei gehandelt hatte. Es war doch immer wieder möglich, selbst in der nutzlosesten Sammlung einen kostbaren Schatz zu finden. Nervös blätterte er zurück, fand die Platte wieder und zog sie voller Erwartung heraus, wobei ihm bewusst wurde, dass es sich dabei um Obscured by Clouds von Pink Floyd handelte. Parallel dazu erwachten in ihm eine Unzahl alter Erinnerungen, die ihn mit dieser Platte verbanden. Es war eines seiner absoluten Lieblingsalben. Kennen gelernt hatte er es zuhause bei seiner ersten Jugendliebe, deren Vater einen Plattenladen besessen hatte. An dem Tag, als das Album erschienen war, war er nachts extra zu ihr gegangen, sie hatten sich beide in den Laden des Vaters geschlichen, der seiner Tochter das Hören von Rockmusik strengstens verboten hatte, und hatten im Schein einer Kerze zum ersten Mal die verheißungsvollen Klänge dieses Meisterwerks gelauscht. Das war der Beginn eines heimlichen Rituals, das die beiden daraufhin einführten. Dieser Nacht folgten unzählige weitere, in denen sie im verbotenen Laden diese Platte hörten, zaghafte Küsse austauschten, sich vorsichtig ihren Gefühlen hingaben und nichts wussten, außer, dass diese Liebe unendlich war. Doch wie alle Luftschlösser, die im kindlichen Leichtsinn erbaut werden, wurde auch dieses vom brutalen Gang der Zeit zerstört. Ihre Wege trennten sich durch ungeahnte Zufälle für immer und mit ihnen auch Peters Verbindung zu der Platte. Im Herzen trug er die bedeutungsvollen Klänge noch immer mit sich, doch gehört hatte er sie seit ihrer Trennung nicht mehr. Dadurch bekam der Fund des Albums an diesem enttäuschenden, trostlosen Tag eine nahezu schicksalhafte Bedeutung. Beim ersten Erblicken der LP schloss er sie in sein Herz um sie nie wieder herzugeben, zu viele Erinnerungen hingen an ihr. Instinktiv stand er auf und ging zum Besitzer um den Kauf so schnell wie möglich abzuschließen. Dieser war jedoch noch mit den anderen Käufern beschäftigt, also vertrieb sich Peter die Zeit damit, in nervöser Vorfreude auf seinen Erwerb, durch den Rest der Sachen auf diesem Tisch zu sehen. Neben altem Spielzeug aus den Sechzigern und mittelalterlichem Werkzeug fand er noch eine Kiste voller Bücher. Er wusste, dass in seinem Leben kein Platz war, um sich Lektüren zu widmen, trotzdem sah er sich die Kiste durch, da er mit dem Rest der angebotenen Dinge noch weniger anfangen konnte. Er kniete sich nieder, stellte die Schallplatte zwischen seine Knie, wobei er sie mit zufriedenem Grinsen erneut betrachtete und fing dann an, die Bücher mit halbem Interesse durchzusehen. Er war nicht wirklich belesen. Auch wenn er sich grundsätzlich für Literatur interessierte, machte sein Lebensstil das ernsthafte Lesen von Büchern unmöglich. Einige Autoren erkannte er, von den meisten hatte er jedoch noch nie etwas gehört. Zufällig zog er einige Werke heraus, durchblätterte sie, las sporadisch ein paar Absätze und genoss dabei den alten, modrigen Geruch, den ihre vergilbten Seiten ausdünsteten. Schon früher hatte er diesen Duft, den auch die älteren Schulbücher ausstießen, geliebt. Für diese Dinge hatte er schon immer einen besonderen Sinn gehabt. Während die Durchschnittsmenschen den Geruch gar nicht ernsthaft wahrnahmen, sondern sich lediglich auf den Sinn der Buchstaben konzentrierten, war es für ihn ein entscheidender Faktor, der dem Lesen erst den übersinnlichen Charakter verlieh, der es so reizvoll machte. In diesem Duft steckten Alter, Ewigkeit, Weisheit. Er gab dem Leser eine Ahnung von dem Zeitraum, den das Buch schon überstanden hatte, der sich in den Seiten abgesetzt hatte und dort für immer geheimnisvoll festhing. Dies war der Geruch von Zeit, dachte Peter in andächtiger Würde, während der Verkäufer auf ihn zukam um sich ihm zu widmen. "Kann ich ihnen weiterhelfen?" fragte er mit monotoner Stimme. Sofort war Peter wieder bei der eigentlichen Sache, legte das Buch zurück, griff nach seiner LP und drückte sie dem Verkäufer in die Hand. "Die hier will ich mitnehmen!" verkündete er stolz und sah dem Verkäufer erwartungsvoll in die Augen. Darauf teilte ihm dieser den Preis mit, wobei er großen Wert darauf legte, seine Güte und Großzügigkeit zu betonen, diese Platte für einen so geringen Preis zu verkaufen, was jedoch Peter nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Zu sehr war er mit Vorfreude und Stolz auf seinen Erwerb erfüllt, als dass er sich auf das profane Gerede der Geschäftsmänner hinabgelassen hätte. Ohne weiter zu handeln oder sich zu unterhalten, zahlte er den Preis und nahm das Album wieder zu sich, um es nie mehr aus den Händen zu geben. Er bedankte sich und ging mit knabenhafter Begeisterung davon. Nun hatte der verfluchte Tag doch noch einen so glücklichen Verlauf finden können. Mit seinen Blicken mehr auf die Schallplatte als auf den Weg gerichtet, schlenderte er umher, ohne Verlangen, ohne Orientierung, ohne Ziel.  Während er in Gedanken in den vielen warmen Erinnerungen schwelgte, die das Album in ihm hervorriefen, machten sich aber auch langsam seine Schwäche und seine Müdigkeit bemerkbar. Es war mittlerweile Nachmittag geworden. Er hatte seit der vorletzten Nacht, außer seinem Nickerchen in der Kneipe seines Freundes Andreas, nicht mehr geschlafen, was ihm aber auch gar nicht wirklich bewusst war. Er wusste lediglich, dass er eine kurze Pause nötig hatte um wieder zu Kräften zu kommen. Also wandte er seine Aufmerksamkeit seiner Umgebung zu, in der Hoffnung eine angenehme, ruhige Sitzgelegenheit zu finden. Und tatsächlich stand nur einige Meter weiter, etwas abseits, am Rande des Flohmarktes, ein schöner, älterer, gepolsterter Ohrensessel, der anscheinend zum Verkauf gedacht war. Als Besitzerin fand er eine sympathische Frau seines Alters und fragte sie ob er sich für einen kurzen Moment darin ausruhen könnte. Es stellte sich heraus, dass auch diese Frau ihm sehr freundlich zugewandt war, denn sie empfing ihn mit großer Herzlichkeit und bot ihm ohne zu zögern die Sitzgelegenheit an, denn sie konnte ihm seine Erschöpfung deutlich ansehen. Dankend ließ er sich nieder und spürte erst im Moment der Entspannung seine schmerzenden Glieder und seine arge Müdigkeit. Er war froh über die Freundlichkeit, die ihm auch hier entgegengebracht wurde, über die Erholung, die er nun bekam und am meisten doch immer noch über die Schallplatte, die er schützend in seinen Armen hielt. Glückselig ließ er sich in die alten Polster zurückfallen, die ebenfalls, wie die Bücher, nach Zeit rochen, schloss die Augen und spürte den Alkohol, der sanft und warm sein Gehirn durchströmte. Es dauerte nur wenige Momente, da sank er in friedlichen, wohltuenden Schlaf und vergaß sämtliches Geschehen, das sich um ihn herum abspielte.

Dienstag, 10. Juni 2014

Auf den Irrwegen der Zeit, Teil 2/4

Die feinen Nebelschwaden waren mittlerweile komplett der mächtigen Sonne gewichen, taufeuchte Tulpen öffneten auf den Fensterbrettern ihre Kelche und Schwalben flogen tief und mit munterem Gesang durch die erwachten Straßen der Stadt. Die Luft war noch so rein und frisch, wie sie nur nach einer vernebelten Nacht sein kann, bis die Häuser, Menschen und Maschinen wieder in Schwung kommen und den Dunst ihrer ehrlichen Arbeit ausstoßen. Erste, kleine Cafés öffneten ihre Pforten, Frühstücksduft lag in den Gassen der Altstadt und Paare mittleren Alters flanierten zufrieden umher, um ihren freien Tag gebührend zu beginnen. Der Morgen hatte seine Hülle abgeworfen und zeigte seine Konturen in den sattesten Farben und schärfsten Kontrasten. Auch Peter hatte die intensivste Phase seines Rausches hinter sich gebracht, den Schleier seiner Wahrnehmung größtenteils abgelegt und sich nach seiner Verirrung ins Neubaugebiet wieder stadteinwärts begeben. Seine Umwelt konnte er wieder klar erkennen, doch wurde sie von den Sinnen vorsichtig gedämpft, um das verletzliche Gemüt des ausnüchternden Trinkers nicht zu verstimmen. Fasziniert vom bodenständigen Tagesverlauf seiner Mitbürger und von der zwanglosen Freude, die er in ihren Gesichtern fand, schlenderte er umher und versuchte zaghaft das Geheimnis hinter ihrer nüchternen Fröhlichkeit zu entdecken. Das Abflachen des Rausches konnte er nicht spüren, und so sank er ganz langsam und sanft zurück in das Reich der Denkenden. Parallel dazu erwuchs in ihm die gewohnte Melancholie und die alte Verachtung gegenüber den Mitmenschen, die ebenso unschuldig waren wie er, doch trotzdem zufriedener sein konnten als er. Der gewohnte Groll überkam ihn und mit ihm der bekannte Begleiter, sein bester Freund und schlimmster Feind, der Durst. Gemischt mit der aufkommenden Müdigkeit braute sich in ihm ein übelartiger Gefühlscocktail zusammen, der durch die Wechselwirkung der locker-entspannten Stimmung der morgendlichen Straßen noch verstärkt wurde. Mit der Nervosität eines Flüchtenden und der Zielstrebigkeit eines Suchenden beschleunigte er seine Schritte, die Absicht im Hinterkopf, auf dem schnellsten Wege eine angemessene Örtlichkeit zu finden, in der man sich möglichst unbeobachtet in Alkohol ertränken konnte, bevor es das Selbstmitleid schaffte. Hastig, von aufkommender Verzweiflung ergriffen, lief er umher, hielt sein Gesicht dem Boden zugewandt und sah nur ab und an kurz nach oben um einen möglichen Zufluchtsort vor seiner misslichen Lage zu erhaschen. Doch sämtliche Kneipen, die er noch von früher aus der Innenstadt im Hinterkopf hatte, waren entweder verschwunden, geschlossen oder durch andere unnütze Geschäfte ersetzt worden. Die Unruhe in ihm begann zu kochen, zu jucken und machte ihn zum gefährlichen, wandelnden Pulverfass, das so leicht die Beherrschung verliert und zu Exaltationen neigt. Sein Gang wurde stets schneller, doch gleichzeitig auch unbestimmter, sein Blick wurde verbitterter und frequentierte immer eifriger, doch unachtsamer seine Umgebung, aber nirgends war ein angemessener Hafen zu finden, der Schutz vor der rauen See in seinem Kopf bieten konnte. In all der Rage und Verzweiflung fuhr plötzlich ein Fahrradfahrer an ihm vorüber, streifte ihn um ein Haar am Ärmel und klingelte ärgerlich, worauf Peter fürchterlich zusammenschrak, einen Satz zur Seite machte und gegen ein Werbeschild stieß. Dieses fiel zu Boden, lärmte blechern und bescherte ihm dadurch die schaulustigen Blicke einiger Umstehenden. Als das Scheppern verklungen war sah er sich verstohlen um. Er konnte keinen seiner Beobachter erkennen, doch in ihren Gesichtsausdrücken konnte er definitiv sehen, dass sie ihn, sein Schicksal und seinen Ruf kannten. Manche verdrehten die Augen, andere tuschelten hinter vorgehaltener Hand und wieder andere warfen sich wissende Blicke zu, doch schließlich wanden sich alle nach einigen Sekunden wieder ab und überließen ihn seinen Problemen. Schuldbewusst hob er das Schild auf, platzierte es dort, wo es gestanden haben musste und musterte dabei die Aufschrift, die in eleganten, schwungvollen Buchstaben mit Kreide darauf geschrieben war.
"Heute internationales Frühstück bis 11:00 Uhr" Internationales Frühstück? Vielleicht herrscht dort das richtige Ambiente für mein aufgewühltes Gemüt. Vielleicht ist das der richtige Ort, um mich unbemerkt an die Bar zurückzuziehen und einfach einer unter vielen sein zu können. So dachte er und besah dabei das Haus, vor dem er gelandet war. Es war ein altes, schiefes Gebäude mit rotem Fachwerk, das liebevoll in Stand gehalten wurde und jovial einladend wirkte. Man sah dem Zustand der Fassade, der Dekoration der Fenster und dem Charakter des Gesamtbildes an, dass hier eine liebenswerte, alte Dame die Fäden in der Hand hielt. Die Fenstersimse waren mit dicht bewachsenen Blumentöpfen bestellt, hinter den Scheiben konnte man zierlichen Holzschmuck entdecken und im beidseitig sandsteinbemauerten Gang, der hinter das Haus und zum Eingang führte, kletterten Efeuranken verträumt nach oben, dem Licht entgegen. Drinnen, in der Stube sah er zwar schon einige Tische, die mit zufriedenen, ebenfalls älteren Paaren besetzt waren, doch schienen diese zu sehr mit sich selbst und ihrem spätsommerlichen Glück beschäftigt, als dass sie sich mit seiner kläglichen Person abgeben hätten können. Allgemein erweckte dieser Ort den Anschein, jeden Besucher gerne aufzunehmen und ihm seine Bedürfnisse bedingungslos zu stillen. Peter war überzeugt, hier den nötigen Seelenfrieden für die nächste Stunde finden zu können, also schlurfte er den kühlen, schummrigen Sandsteingang nach hinten und betrat die Kneipe. Er stieg einige Stufen hinunter in den Gastraum, der auf halber Höhe der Straße lag. Schwerer, süßer Blütenduft lag im Inneren des Hauses. Das Tageslicht schaffte es nur gedämpft durch die alten Scheiben und wurde im Gastraum zu einem einzigen, schummrigen Gebilde. Die Luft war träge, staubgeschwängert und es schien, als würden die Sonnenstrahlen in dieser zähen Masse versinken, allmählich aushärten und schließlich mit der Zeit verschmelzen. Die Wände waren mit alten, knarzenden Eckbänken aus dunklem Holz gesäumt, Vorhänge, Tischdecken und Servietten waren in rot-karierten Karos gehalten und die Deckenlampen sowie die Arabesken auf den seitlichen Lehnen der alten Bänken schimmerten in altem Messing. In der Mitte des Raumes stand ein langer, reichlich bedeckter Tisch, an dem sich die Gäste erlabten. Leichte Klaviermusik flüsterte durch die dicke Luft, an die sich später zwar keiner der Besucher mehr erinnern werden würde, die jedoch ihnen den Aufenthalt in dieser Kneipe im Unterbewusstsein versüßte und ihre Sinne anregend umspielte. Dieses Haus war ein pittoreskes Stückchen Erde, an dem sich Peter wohl fühlte, und dessen Stimmung ihm Wohlbehagen und Vertrautheit suggerierte. Hoffnungsvoll begab er sich an den Tresen, ließ sich erschlafft auf einen Hocker sinken und studierte sogleich die Karte. Das vergnügte, ungezwungenen Treiben der anderen Gäste, die trotz seiner Anwesenheit nicht in Ekel und Abscheu verfielen, munterte ihn dabei noch weiter auf, und so wartete er guter Dinge auf die Bedienung. Diese kam bald, erfüllte mit ihrem ergrauten Haar, ihrem herzlichen Blick und ihrer freundlichen Art Peters Erwartungen, nahm höflich die Bestellung auf und brachte ihm nach wenigen Minuten seinen Irish Coffee, den er dankend entgegen nahm und dabei noch etwas anmerkte: "Dankeschön, gnädige Frau...ja, schreiben sie es auf, dankesehr. Jetzt fehlt nur noch mein Rum." Höflich lächelte sie ihn an und antwortete ihm: "Oh..nein, nein. Sie verstehen falsch! Der Rum ist in ihrem Kaffee, sie haben einen Irish Coffee bestellt." - "Ja natürlich, gnädige Frau. Aber ich glaube, sie verstehen falsch. Ich möchte zusätzlich zum Irish Coffee noch einen Rum...pur." Da huschte ein Schatten über ihre Miene, der aus dem natürlichen Lächeln ein gezwungenes machte und ihre Stimme bekam einen misstrauischen Unterton. "Ah, verstehe Monsieur. Ich dachte, sie wollten vielleicht vorerst etwas Essen zu sich nehmen. Aber sie sollen ihren Rum bekommen. Einen Moment, bitte!" - "Sehr gut, Dankeschön!" rief Peter ihr hinterher und freute sich währenddessen noch mehr, dass er tatsächlich in dieser friedlichen Gesellschaft Gast sein durfte und auch seine anormalen Eigenheiten, wie Sonntagmorgens um halbzehn puren Rum zu trinken, akzeptiert wurden. Selbstzufrieden nippte er am seinem Kaffee und spürte sofort die erquickende Wirkung des Koffeins und die Befriedigung durch den Alkohol. Während er noch einige weitere Schlücke nahm, stellte ihm die Barfrau kommentarlos den Rum auf den Tresen und schenkte ihm ein weiteres, affektiertes Lächeln, bei dem Peter den erzwungenen Charakter aufgrund seiner euphorischen Begeisterung gar nicht wahrnahm. Den Schnaps trank er unverzüglich aus, und die heimatliche Wärme, die sich daraufhin in ihm ausbreitete, löste in seinem Kopf das Verlangen nach mehr aus, worauf er der Dame sofort hinterher rief um zwei weitere Rum zu bestellen. Diese würdigte ihn mit einem kurzen Blick, zog ihre Augenbrauen hoch, wischte dabei ihre nassen Hände an der Schürze ab und wandte sich mit einer erwachenden, bösen Vorahnung ab, um seine Bestellung auszuführen. Als sie diese beiden Rums brachte war ihr Blick wie versteinert. Peters fröhliche Art würdigte sie lediglich mit einem kurzen, verzerrtem Grinsen und wandte sich postwendend wieder ab um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Das Etablissement, in dem er sich hier niedergelassen hatte, war für Kaliber seines Menschenschlages nicht ausgelegt. Dieser Ort war ein Tempel für sehnsüchtige Schwelger und für gestrandete Weltumsegler, die hier ihren persönlichen Herbst zubringen wollten, um der Vergangenheit zu gedenken und die Zukunft zu verehren. Jedoch war dies kein Ort für unruhige, explosive Gemüter wie Peter eines war, was die Besitzerin spätestens jetzt zu erahnen begann. Doch Peter, immer noch zu euphorisch um zu begreifen, übersah ihren Stimmungswechsel und widmete sich seinen beiden Kurzen. Dabei drehte er sich auf seinem Barhocker und ließ seine Augen durch den Raum schweifen um das zwanglose Geschehen zu bewundern. Alle Leute hier waren lustig, an jedem Tisch gab es, unabhängig voneinander, Anlass zum Lachen; wo er auch hinsah, fand er ausschließlich ehrliche, aufrichtige Freude, wie sie nur in solchen anonymen Hinterhofkneipen, abseits vom ernsten Pflichtbewusstsein der Straßen, aufknospen kann. Mit verstreichender Zeit fühlte er sich dieser Gemeinschaft mehr und mehr zugehörig. Er sah sich als einen Teil dieser privilegierten Runde und gab sich der bacchantischen Stimmung bedingungslos hin. So gingen seine beiden hochprozentigen Begleiter schnell dahin, worauf er beschloss eine neue Runde zu bestellen, denn der Tag war schließlich noch jung. Doch vorerst musste er seinen menschlichen Pflichten nachgehen und erhob sich um auf die Toilette zu gehen. Dabei bemerkte er die wiederkehrende Wirkung des Alkohols, woran er sich erfreute und glückerfüllt zum stillen Örtchen schwankte. Die bösen Geister durchschwebten wieder seine Seele und das war gut so. Belustigt kehrte er zurück, lief auf dem Weg zu seinem Sitzplatz an der Dame des Hauses vorbei und bestellte im Vorübergehen eine weitere Runde, wobei er ihr freundschaftlich auf die Schulter fasste. Dabei fuhr sie erschrocken umher, quittierte seine Heiterkeit mit ekelerregtem Blick und ließ ihn antwortlos stehen. Dieses Verhalten kam Peter etwas seltsam vor, doch entschuldigte er es für sich selbst mit ihrem permanenten Arbeitsstress. So kehrte er auf seinen bestimmten Platz unter den ehrenvollen Leuten zurück und wartete friedvoll auf das Wiederkehren der Bedienung. Jetzt war er wieder im schwelgerischen Modus der Halbtrunkenheit. Zufrieden blickte er umher, sah die besonderen, erhabenen Leute, die zwischenmenschlichen Liebkosungen, das alte, erfahrene Interieur und die zwanglose Gelassenheit. Doch den Punkt, an dem er den Stellenwert dieser Geschehnisse noch einordnen konnte, hatte er längst wieder über schritten. Er nahm sie wahr, erfreute sich an ihnen, doch war es eine oberflächliche, stumpfsinnige Freude und keine, die von Dauer war und die für spätere Erzählungen dienen konnte. Die Erlebnisse drangen in seine Wahrnehmung ein, jedoch nicht in sein Gedächtnis, das schon wieder auf den weiten Meeren der Trinkerei entschwunden war. Doch zumindest konnte er im Hier und Jetzt am Geschehen teilnehmen, die Gefühle mit den Anwesenden teilen und jede Geste, jede Handlung, jedes Glück sehen, und alles was er sah war vollkommen rein und aufrichtig. Verträumt starrte er auf einen unbestimmten Ort im Raum und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Diese verloren sich in Glückseligkeit, spannen ein wohliges Kokon um sein armes Gedächtnis, das in den letzten Jahren so sehr leiden musste und bescherten ihm einige schöne Minuten. All diese Menschen leben so unbekümmert, haben so viele Gründe zur Heiterkeit, dass sie gar nicht realisieren, wie die Uhr sich dreht und der Tag vergeht. Die Zeit plätschert an diesem Ort so unbefangen dahin, als würde sie unendlich sein, so dachte er. Unendlich...das war für ihn immer ein Wort von großer Bedeutung, etwas Unergründliches, Mystisches gewesen, doch hier, an diesem Ort verloren Worte wie diese das bedeutungsvolle Gewicht, das ihn einst sehr vorsichtig mit solchen Begriffen werden ließ. Unendlichkeit...Freiheit...Zukunft... was bedeuteten diese Dinge hier schon, fragte Peter sich. An diesem Fleckchen Erde war alles gut so, wie es war; keiner musste sich um irgendetwas sorgen und jeder war willkommen. Wieso konnte das nicht überall so sein? Was war an den Mitmenschen hier so besonders, das die anderen nicht hatten? In dem Moment hörte er zweimal, kurz aufeinader folgend, das Klopfen der beiden Schnapsgläser auf der Bar, wodurch seine Aufmerksamkeit sofort zurück im wahren Geschehen war und er sich der bedienenden Frau zuwandte. Sie stütze sich mit beiden Händen auf ihre Theke, beugte sich auffordernd nach vorne und deutete auf seine Rechnung, die sie neben den Gläsern auf das feuchte Holz gelegt hatte. "Also mein Freund, tut mir Leid, aber danach ist für dich heute Schluss hier. Bezahle deine Schulden und dann muss ich dich bitten zu gehen!" Perplex starrte Peter ihr in die Augen und verstand die Welt nicht mehr. Gerade hatte er sich noch dieses Momentes erfreut und den vollkommenen Frieden, der hier herrschte, wie Balsam auf sich wirken lassen, und nun wurde er aufgefordert zu gehen, obwohl er sich nichts zu Schulden kommen lassen hatte. "Wie bitte? Verstehe ich Sie jetzt richtig?" Da sah sie ihn dezidiert an und entgegnete: "Oh ja, das tun Sie! Hören Sie, wir sind hier eine kleines Restaurant in dem man gut essen und sich ruhig unterhalten können soll. Und keinesfalls sind wir eine Anlaufstelle für alleinstehende Vagabunden, die früh um zehn Uhr ihre Midlifecrisis in karibischen Rum ertränken wollen. Deshalb muss ich sie nun ein letztes mal bitten zu bezahlen und anschließend durch diese Tür zu gehen!" Diese heftigen Worte waren zu viel für Peters reizbaren Charakter. Er war hier reingekommen, hatte friedlich das ein oder andere Getränk bestellt, war auf keine Weise negativ aufgefallen und nun sollte er unter dreisten Beleidigungen hinausgeschmissen werden? "Spinn ich jetzt? Was ist in diesem LADEN DENN LOS?!" begann er zu schreien, doch verstummte währenddessen von sich aus wieder, denn ihm wurde bewusst wie brutal er soeben die Atmosphäre in der Kneipe zerstört hatte. Schon konterte die Besitzerin ihm: "Also los jetzt, ich schaue hier nicht mehr länger zu! Entweder Sie gehorchen nun, oder ich rufe die Polizei!" Niedergeschlagen begriff er seine missliche Position. Er war nur ein vergnügter, unauffälliger Kunde dieser Frau gewesen, hatte sich von ihr aus unerfindlichen Gründen provozieren lassen und saß nun aufgrund seiner Reaktion trotzdem im Schneider. Zudem konnte er förmlich die Blicke der restlichen Gäste in seinem Rücken spüren, die ihn vorwurfsvoll und verärgert ansehen mussten. All diese sympathischen, liebevollen, gelassenen Menschen, die ihn akzeptiert hatten, mit denen er einen schönen Morgen verbracht hatte und für die er vorhin noch so viel Empathie empfunden hatte, waren jetzt mit einem mal gegen ihn, und das wahrscheinlich noch zurecht. Er fühlte sich schuldig und verraten zugleich. Dass seine Zeit hier nun abgelaufen war sah er jedoch ein, also kramte er in seinem Geldbeutel umher, betrieb höchsten Aufwand, den Betrag möglichst passend zusammen zu bekommen und legte ihn der immer noch Wartenden wuchtig auf die Bar. Dann ergriff er mit jeder Hand einen seiner bezahlten Schnäpse und stürzte sie schwungvoll, kurz nacheinander hinunter. Schließlich erhob er sich, ergriff seinen Paletot, der auf dem Nachbarhocker lag, und wandte sich mit dem beschämten Gefühl eines zu unrecht Verurteilten ab, um den Raum zu verlassen. Dabei achtete er angespannt darauf, sein Gesicht den anderen Gästen nicht mehr zu zeigen, da diese, aufgrund der zerplatzen Romantik, auf ihn ziemlich sauer sein mussten, was er auch vollkommen nachvollziehen konnte.

Die Tür fiel mit Glockengeläut hinter ihm ins Schloss, während er sich verloren, geblendet und erst jetzt die gesamte Situation vollständig begreifend, in der warmen Morgenluft wieder fand. Die Sonne stand mittlerweile schon über den Häusern, die sanfte, morgendliche Stimmung war entschwunden und auf den Straßen herrschte feierliches, jedoch hektisches Treiben von festtäglich gekleideten Kirchenbesuchern. Peter kam sich entwurzelt vor, als hätte er keine Vergangenheit und keine Zukunft, genau wie Feuerzungen, die nur so kurz existieren, dass keiner ihr Erscheinen und ihr Verschwinden überhaupt wahrnehmen kann. Eigentlich entsprach dieses Bild genau dem, das die meisten von ihm hatten, denen er Tag für Tag über den Weg lief, doch er persönlich sah sich zum ersten Mal aus dieser Perspektive. Ein Ziel, das er versuchen konnte anzustreben, hatte er den ganzen Morgen noch nicht gehabt und der einzige Ort, der ihm in den letzten Jahren ans Herz gewachsen war, war ihm nach einem einstündigen Aufenthalt wieder versagt worden. Er war im wahrsten Sinne des Wortes entwurzelt, dieses harte Schicksal kam ihm in diesem Moment schmerzlich ins Bewusstsein. Er bezog es allerdings nicht auf sein Leben als Gesamtes, sondern ausschließlich auf diesen Moment, denn viel weiter vermochte sein Verstand nur selten zu denken. Niedergeschlagen, und ohne wirklich zu wissen was er tat, begann er einen leidvollen Marsch ins Nirgendwo. Ohne es bewusst zu realisieren, lief er los, in die Menschenmengen hinein, deren reges Treiben er nicht einmal bemerkte. Nichts gab es für ihn zu tun, keiner erwartete ihn an einem gedeckten Tisch, keinen Pflichten hatte er nachzugehen. Es gab für Peter keinen Sinn überhaupt irgendwo hinzugehen. Der einzige Grund dafür, sich überhaupt fortzubewegen, war der, dass er es an diesem Ort nicht mehr aushielt. Es ging nicht darum, irgendwo anzukommen, sondern darum, hier zu verschwinden. Das Unrecht, das ihm angetan wurde, der Groll, der ihm gegenüber hinter diesen Mauern empfunden wurde und die Scham, die er gegenüber den Insassen dieses Hauses empfand, trieben ihn wegwärts, stießen ihn ab, schickten ihn hinfort, seinem ungewissen Schicksal entgegen. Sämtliche Erlebnisse der letzten Stunden liefen ihm dabei rückwärts am geistigen Auge vorbei, doch begreifen konnte er keines von ihnen. Er sah die friedliche Gesellschaft, die Besitzerin der Kneipe, ihr hübsches, liebevoll hergerichtetes Haus, den Streit mit dem alten Ehepaar, mit dem er einst befreundet gewesen war und er sah die frühmorgendlichen Straßen im sanften Nebel, dann verloren sich seine Erinnerungen wie gewohnt und auch nach längerem Nachsinnen, kam er nicht darauf, wo er diesen Morgen ursprünglich begonnen hatte. Da begriff er, wie jung der Tag noch war. Umso mehr schockierte es ihn, wie viel Unrecht und Streit er in den wenigen Stunden schon erfahren musste; wo sollte das heute noch hinführen? Er wusste es nicht. So ließ er sich gehen, schwankte zwischen geistiger Leere und gedankenvoller Überschwemmung und wanderte, wohin ihn die Füße trugen, der unheilvollen Zukunft entgegen.

Der Strom aus Menschen zog an Peter vorüber, als wäre er ein Fels in einem reißenden Bach. Er schritt rücksichtslos voran, doch alle Leute mieden ihn, wurden förmlich von ihm abgestoßen und drückten sich an ihm vorbei. Er passte eben so gar nicht in diese Situation, unter diese Leute, eigentlich in diese Welt. Für Aussteiger wie ihn war kein Platz in einem sozialen System, in dem man sich grüßte, affektiert lächelte oder sich zumindest gegenseitig darauf verlassen konnte, dass keine Gefahr von den Nachbarn ausging. Abtrünnige, wie er einer war, gehörten hinaus, in die weite Welt, hätten abseits der Zivilisation durch Wälder wandern und sich mit den Tieren vereinen sollen um dort draußen gemeinsam ihren Wahnsinn auszuleben. Doch dazu war er nicht imstande. Er brauchte Wände, Menschen, feste Umrisse um sich, die ihn immer wieder aus dem freien Fall auffingen und ihn zurück in die Ruinen seines Lebens brachten. Er brauchte altbekannte Formen und eine vertraute Umwelt, an denen sich zumindest seine Intuition orientierten konnte. Und er brauchte seinen Begleiter, der ihm den richtigen Weg wies und ihn anschließend verwirrte, seinen Kumpel, der ihn tröstete und in der nächsten Sekunde schon verspottete, seinen Helfer, der ihm die Hand reichte und ihm gleichzeitig ein Bein stellte, seine Zuflucht, die ihn sowohl schützte, als auch entblößte, seinen Lebensretter und Todfeind, den flüssigen Geist, den Alkohol. Ohne ihn wäre er keinen Tag auskommen. Nicht unbedingt der Sucht wegen, sondern aufgrund der einsamen, tragischen Realität, die ihn zerfressen hätte. Wahrscheinlich hätte er ohne ihn sofort Gespenster gesehen, hätte Stimmen gehört, wäre durchgedreht und schließlich einfach implodiert. Kurzum, er konnte diese Stadt mit all ihren verborgenen Erinnerungen und Stützen nicht verlassen. Es galt sich durchzukämpfen, das Leben herauszufordern. Und das tat er auf ganzer Linie. 
Die lange, dicht bewanderte Hauptstraße mit ihren unzähligen kleinen Cafés und Restaurants hatte er nun fast verlassen und kam in Richtung der außerhalb gelegenen Siedlungen. Als er die letzte Bar dieser Straße passierte, fiel ihm ein, sich um Proviant für seinen Spaziergang zu kümmern; schließlich wusste er selbst nicht wohin und wie lange es ihn noch durch diese seltsame Stadt treiben wird. So betrat er die besagte, letzte Bar der Straße und bestellte sich am Tresen eine Flasche Bier und ein Wurstbrötchen. Währenddessen sah er sich um und bemerkte die fiesen, herausfordernden Blicke der anderen Insassen. Jeder einzelne erweckte in Peter das Gefühl, als wäre er unerwünscht und wirklich verachtenswert. Er würde niemals wieder eine ähnliche Kneipe wie diese Letzte finden, das stand fest. Keine Ansammlung von Menschen, kein anderes Haus würden ihm jemals wieder diese Freude und dieses Gefühl der Zugehörigkeit und des Nachhausekommens geben können. Es war eine Tragödie. Wie konnte all das passieren? Verzweifelt bezahlte er seine Ware und verließ diesen Laden auf dem schnellsten Wege. 

Sein Brötchen essend lief er hinaus, in den ruhigeren Teil der Stadt. Nahezu menschenleere Straßen und klar strukturierte Vorgärten erwarteten ihn hier draußen, das war gut so. Nur Ruhe und Ordnung konnten ihm diesen Tag noch vor dem totalen Desaster retten. Selbstverloren schlenderte Peter durch die Stille der philisterhaften Vorstadt, erfreute sich der Gleichgültigkeit, die ihm hier entgegengebracht wurde, und konnte dem surrenden Kopf nun endlich Ruhe gönnen, denn sein Verstand wurde allmählich wieder klarer. Die frische Luft tat ihm wohl, senkte seine Trunkenheit und entwirrte das Schlamassel in seinem Kopf, sodass er seine Umwelt entspannt in sich eindringen lassen konnte um sie zu genießen und schätzen zu lernen. In diesem Teil der Stadt hielt er sich normalerweise nie auf, deshalb war alles aufregend und neu. Hinter Küchenfenstern standen eifrige Hausfrauen, die ihre familiären Pflichten erfüllten, glückselige Väter lagen in den Gärten, genossen den einzigen Tag der Woche, den sie ausschließlich dem Müßiggang widmen konnten und in den Vorhöfen rannten Kleinkinder umher, führten Sonnentänze auf, kreischten vor Freude und feierten die Unendlichkeit allen Seins ihrer kleinen, unantastbaren Welt. Peter genoss es, in den Nebenstraßen umher zu flanieren. Diese Art von Bevölkerung war für ihn in Ordnung, denn hier waren alle zufrieden, waren sich ihres Glückes bewusst und vergaßen die Probleme für einen Tag, ähnlich wie in der Kneipe von vorhin. Außerdem ließen sie ihn in Ruhe vorbei spazieren ohne doofe Mienen aufzusetzen und akzeptierten es, wenn er kurz inne hielt, den kleinen Familienfrieden mit Vergnügen bewunderte und somit selbst für kurze Zeit ein Teil dessen werden durfte. So konnte man leben, so war alles erträglich. Doch wie alles Schöne meist nicht lange anhält, war es an diesem Tag nicht anders. Die kleine, hübsche Familiensiedlung war bald zu Ende und mündete in den nächsten, noch weiter abgelegenen Stadtteil. Es war ein Industriegebiet, das allerdings am Sonntag ohne den Rauch der Schlöte, ohne das Brummen der Maschinen und ohne den Geruch der Arbeit hier im spätmorgendlichen Glanz der Sonne doch auch etwas geheimnisvoll-schönes hatte. Der eine besänftigende Stadtteil blieb zurück, und der nächste, vielleicht noch mehr besänftigendere, empfing ihn. Peter öffnete sein Bier, steckte sich eine Zigarette an und ging mit kindlicher Freude seinen Weg weiter, zwischen den schlummernden Fabriken hindurch. Ein unheimlicher, doch reizender Schauer überkam ihn. Es hatte etwas surreales und trügerisches an sich, in vollkommener Stille an riesigen Fabrikhallen vorbei zu gehen. Seine Erfahrungen und Erwartungen wurden quittiert, widerlegt, ja beinahe verspottet. Industriegebiete hatte er aus seinem früheren Berufsleben ausschließlich mit raucherfüllter Luft, schnaufenden LKWs und kontinuierlichem Lärm in Erinnerung. Die Produktionsstätten in Ruhe vorzufinden empfand er wie ein hinterlistiges Trugbild, wie einen schlechten Scherz; es war wie eine Geisterstadt zu betreten oder die offizielle Grenze der Zivilisation zu überschreiten. Diese seltsame Szenerie, die er einst als Sinnbild für den Fortschritt der Menschheit gehalten hatte, in Stillstand vorzufinden, wirkte befreiende auf ihn, beflügelte seine Stimmung noch weiter und spendete ihm auch Trost. Es beruhigte ihn, dass die pflichtbewussten Arbeiter dieser Stadt, und sogar die unermüdlichen Maschinen, sich auch ihre Ruhe gönnten um sich zu erholen. Er rechtfertigte also seine dauerhafte Untätigkeit mit der Ausnahme der anderen, großen Masse, ohne den Irrsinn dahinter zu entdecken und fand so für kurze, schöne Augenblicke erfüllten Seelenfrieden. Mit diesen Gefühlen wanderte der kleine Vergängliche durch die großen, beständigen Gebäude, wobei seine Stimmung in hohe Sphären stieg, die in seinem Leben nur ganz selten erreicht wurden. Selbstverloren, mondsüchtig, ja nahezu apathisch verlor er sich in den riesigen Welt der Industrie, ohne zu bemerken, wie er dabei auf neue Menschenmassen zusteuerte.

Freitag, 9. Mai 2014

Auf den Irrwegen der Zeit, Teil 1/4

Klebrig-süßer Geruch erfüllte die sauerstoffarme Luft in der Kneipe des Wirtes Andreas, während er damit beschäftigt war die Bierrückstände vom Tresen aufzuwischen. Trocknender Alkohol stieß beißenden Geruch aus, kalte Aschenbecher gaben dem noch Lebenden eine Ahnung wie der Tod riecht und Kerzen, die nach und nach in den verschiedensten Ecken verglimmten, bliesen schwarze Rußwolken als Zeichen ihres Ablebens in den feuchten Trinkeratem, der in jedem Winkel des Raumes festhing. Es war fünf Uhr morgens. Die letzten Besucher, die die Nacht damit zugebracht hatten, hier ihrem Leben zu entfliehen, waren auf dem Heimweg, zurück in die Realität, und Andreas selbst war damit beschäftigt, seinen Laden in den Urzustand zu bringen, um ihn am Abend erneut dem Wahnsinn auszusetzen. Ausgelaugt und selbst halb besoffen wandelte er geistesabwesend durch seine Räumlichkeiten und wickelte die anstehenden Arbeiten automatisch ab, wie es nur ein einfältiger Mann kann, der seit Jahren nichts anderes getan hat. 
Es herrschte nahezu unheilvolle Stille in der Kneipe. Nur wenn man gut hinhörte, konnte man das Plätschern des Wasserhahns, das Drehen des Plattentellers, der immer noch rotierte obwohl die letzte Scheibe seit über einer halben Stunde zu Ende war, und das Schnarchen eines hageren, zerzausten Mannes vernehmen, der in einem finsteren Eck neben einer Kerze auf dem Fensterbrett schlief. Er saß schräg auf einer Eckbank und lag vornüber gebeugt, sich mit dem rechten, ausgestrecktem Arm auf dem Sims festhaltend, mit dem Gesicht auf seinem Oberarm. Die Schultern hingen leblos nach unten, unter seinem Kinn stapelten sich Hautfalten und sein Gesicht war komplett eingefallen. Die schlaffe Backenhaut entblößte seine einst starken Wangenknochen, zog gleichzeitig die Mundwinkel mit nach unten und machte es nahezu unmöglich, sich den früheren Glanz dieses Mannes vorstellen zu können. Allgemein hatte er ein unschönes, fast abweisendes, äußeres Erscheinungsbild, doch seine friedvolle Schlafstellung verlieh seiner Aura in diesem Augenblick auch etwas liebevolles und die tiefen, dunklen Augenringe schienen dem Beobachter sagen zu wollen, dass hinter dem Aussehen dieses Mannes großes Leid verborgen war. Auf dem Tisch vor ihm standen zwei leere Bierkrüge, mehrere Schnapsgläser und auf dem Deckel häuften sich diese noch vielfach. 
Sein Name war Peter und er war der beste Freund des Wirtes Andreas. Dies war der Grund, weshalb er seine trunkenen Träumereien hier länger ausleben durfte, als der Rest der Kundschaft. Allerdings war nun auch für ihn der Zeitpunkt gekommen, an dem er zu seiner Odyssee nach Hause aufbrechen musste, denn der Wirt hatte alle Arbeiten abgeschlossen und machte sich darüber, Peter aufzuwecken. Er stellte ein Glas Wasser vor ihm auf den Tisch und sah seinen Kindheitsfreund mit leidvollem Blick an, während er schwer einatmete und anschließend mit einem leeren Bierkrug auf den Tisch klopfte. "Hey Pete!" - so nannten ihn seine wenigen Freunde - " Komm schon, aufstehen!" schallte es durch den ruhigen Raum, wovon selbst der Wirt etwas erschrak. Dann schlug er dem Schlafenden mit einfühlsamer Stärke auf die Backen und schon durchfuhr Peter ein erwachendes Zucken. Er regte sich kurz, veränderte seine Stellung etwas und ging dann wieder in den Schlaf über, worauf der Wirt sofort ein weiteres mal mit dem Krug auf den Tisch klopfte. "Hey, reiß dich zusammen! Ich will dicht machen, steht jetzt auf!" Da schlug er endlich zaghaft die Augen auf, strich sich mit einer Hand über's Gesicht und blickte orientierungslos umher. Andreas reichte ihm das Glas Wasser und während er einige Kerzen ausblies erklärte er dem Verwirrten die Situation: "Also los Pete, trink aus und dann sieh zu, dass du nach Hause kommst! Es ist Halbsechs, höchste Zeit für uns beide!" Peters Augen streiften dabei verhalten umher und versuchten die Anzahl an Eindrücken zu sammeln, die nötig war, um ihm verständlich zu machen, wo er sich befand. Allmählich schwand sein leerer Blick und es erschien ein Gesichtsausdruck, der angenehme Unwissenheit verkörperte. Dann ergriff ihn das anständige Pflichtbewusstsein, das in jedem Trinker schlummert, der sich in seiner Stammkneipe befindet, und er hob sein Glas, das er mit großen Schlücken leerte. Schließlich stand er schwankend auf, suchte in seiner Hemdtasche nach einer Zigarette während sein Blick auf einer Stelle auf dem Boden fixiert war und als der erste kräftige Atemzug die Lungen mit Rauch füllte begann er einen Fuß vor den anderen in Richtung der Tür zu setzen. Dort wartete der Wirt auf ihn um mit einer Umarmung Abschied von ihm zu nehmen. Doch Peter, dessen Bewusstsein noch halb in Schlaf und halb in Alkohol getränkt war, lief apathisch an ihm vorüber, hinaus auf den Gehsteig. Da griff ihm Andreas von hinten an die Schulter um wenigstens ein Fragment der früheren Tage der Freundschaft aufrechtzuerhalten und nuschelte ihm ins Ohr: "Mach's gut, alter Junge. Pass auf dich auf und schau morgen wieder bei mir vorbei, hörst du?" Peter wandte seinen Kopf wie ferngesteuert um und sah seinen besten Bekannten wie einen Fremden mit fragenden Augen an. Nach einigen langen, wortlosen Sekunden sank sein Blick wieder nach unten, er nickte geistesabwesend um Verständnis dessen, was gesagt wurde, vorzutäuschen und schließlich schlurfte er davon in die Morgendämmerung. 
   Andreas sah Peter noch eine ganze Zeit lang nach, wie er lust- und ziellos die Straße entlang ins Zwielicht des aufkommenden Morgens stolperte. Wie im Zeitraffer liefen die unzähligen, warmen Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit an seinem inneren Auge vorüber während er den menschlichen Kadaver dabei beobachtet, wie er von der erwachenden Stadt verschluckt wurde. Schließlich resignierte er in der pragmatischen Einsicht, dass die Melancholie nach all den Jahren nutzlos war und begab sich nach drinnen, um die nötigen Stunden Schlaf zu finden, ohne die er die nächste Nacht nicht überstehen würde.

Peter hingegen kam noch lange nicht in den Sinn schlafen zu gehen. Allgemein kam ihm eigentlich gar nichts in den Sinn. Ihn erfüllte der herrliche, befreiende Stumpfsinn, der Grund dafür ist, dass Trinker trinken und Abstinenzler abstinent sind. Kreative und tatkräftige Personen fühlen sich in diesem Zustand ekelerregend, verachtenswert, ja nahezu lebensunwürdig, wohingegen ein Trinker während der Nüchternheitsperioden mit diesen desolaten Selbstvorwürfen zu kämpfen hat und mit Hilfe des Trinkens versucht, in seine eigene, heile und bedeutungslose Welt zu flüchten. Peter gehörte Letzteren an und befand sich gerade in seinem geistigen Refugium, das ihm die Existenz in dieser fremden Welt überhaupt noch ermöglichte. Die Fassaden wanderten ungeachtet an ihm vorbei, die aufgehende Sonne bemerkte er nicht und die Menschen erwachten fröhlich und zufrieden, ohne dass er einen von ihnen kannte; das Leben dieser Stadt zog stets wie ein flüchtiger Schatten an ihm vorüber.
Die Sonne stieg konstant weiter in den kühlen Maimorgen, doch konnte sie sich noch nicht in ihrer vollen Pracht entfalten, denn ein seichter Nebel umhüllte das Treiben der Stadt. Das Vogelgezwitscher, die Häuserfassaden und selbst der Brotgeruch, der von einer Bäckerei aus durch die Straßen strömte, sämtliche Eindrücke wurden durch den Nebel sanft gedämpft und kamen Peter dadurch besonders angenehm und schonend für sein nacktes Gemüt vor. Außerdem war er ihm Nebel sicher, fühlte sich unbeobachtet und konnte sich und seinen dumpfen Gedanken freien Lauf lassen. Seit knapp einer Stunde flanierte er nun schon sinnlos umher, doch während dieser ganzen Zeit war ihm noch keine Menschenseele über den Weg gelaufen; überall herrschte die verhaltene, private Stimmung wie sie nur an einem Sonntagmorgen in einer Kleinstadt möglich ist. Die reine Luft begann langsam ihre Wirkung zu zeigen indem sie seinem Kopf Klarheit verlieh und sein Bewusstsein sukzessive auf die Realität schärfte. Jedoch hieß das nur, dass er seine Umgebung allmählich wahrnahm, nicht jedoch, dass er wusste wohin er ging, woher er kam oder was er tat. Die bösen Geister hielten immer noch die Hauptzügel in der Hand und so steuerten sie ihn tiefer und tiefer in die unbekannten Straßen, die ihm einst so vertraut und voll von Freunden waren. 
Dabei drang ihm zuerst ganz leise, doch mit konstantem Crescendo ansteigend, eine verschwommen, weinende Melodie in die müden Gehirnwindungen, die ihm anfangs lediglich wie der Klang eines verheißungsvollen Sonntagmorgen vorkam, doch allmählich zu einer bedeutungsvollen Hymne wurde. Aus fernen Tiefen stieg sie auf, erfüllte Zeit und Raum und nahm sein gesamtes, verfügbares Auffassungsvermögen in Anspruch. Furchtlos ließ er sich von den langgezogenen Noten und den sanften, monotonen Takten ausfüllen, die ihm melancholischen Trost bereiteten und, genau wie der Alkohol, seine Gedanken liebevoll in Watte betteten. Doch je länger die Töne ihn umschwirrten, desto mehr kamen sie ihm vertraut vor und desto mehr gewannen sie für ihn an Bedeutung. Die Melodie wurde für ihn zu einer Zeitreise zurück in alte, zufriedene Tage. Lang vergessene Gedächtnisfetzen huschten ihm durch den Kopf und durchwühlten seine staubigen Erinnerungen, ohne dass er den einzelnen Bildern ein bestimmtes Erlebnis oder eine besondere Bedeutung hätte zuordnen können, doch er wusste, dass das Lied aus Tagen seiner Jugend zurück zu ihm kam und, dass es einst von großer Wichtigkeit für ihn gewesen ist. Schließlich traten ihm sogar wieder einzelne Textpassagen in Erinnerung, doch konnte er sich nicht entsinnen woher sie kamen. 

                   "...Ancient bonds are breaking, 
                   Moving on and changing sides..." 

Soweit er in der Verfassung war, sich zu konzentrieren, grub er in den Tiefen seines Erinnerungsvermögens, aber es wollte ihm kein Moment, kein Gesicht, nicht einmal der Interpret zu der geheimnisvollen Melodie einfallen, die ihn mehr und mehr vereinnahmte. Dabei steigerten sich die nervösen Reize, eine Antwort zu finden, bis ins Unangenehme, wodurch er nur noch hektischer nachdachte.

                   "...Dreaming of a new day,
                   cast aside the other way..."

Der Alkohol durchspülte noch zu sehr sein Gehirn, als dass er zu Geistesblitzen fähig gewesen wäre, doch nach und nach begann er sich einzubilden, eine richtige Fährte gefunden zu haben und vertiefte die Kontemplation auf seine frühen Jugendjahre. Ihm erschien sein altes Elternhaus mit dem weitläufigen, gut bepflanzten Garten, seine alten Klassenkameraden und die gut aussehende Lehrerin der elften Klasse, er sah die weiten Kornfelder, die tiefen Wälder des damals noch unbebauten, vorstädtischen Landes und er sah die reizvollen, überirdischen Mädchen, die wie plötzlich aus allen Ecken seines Umfeldes auftauchten und seine unerfahrenen Sinne verwirrten. Hier, in dieser Ecke seiner Vergangenheit, war er sich sicher, die Antwort auf die magische Melodie zu finden, also suchte er aufgeregt weiter in den Erinnerungen, die ihm seit vielen Jahren verwahrt geblieben waren, bis er urplötzlich und unerwartet aus seinem Nachsinnen gerissen wurde. "Na, Pete? Guten Morgen, mein Freund! Was treibst du denn schon hier um diese Uhrzeit bei uns im Neubaugebiet?"
   Erschrocken wirbelte Peter herum, verlor instantan sämtlichen Bezug zu seinen Gedanken und versuchte auszumachen wo er war, was geschah, wer ihn angesprochen hatte. Er erblickte einen älteren Mann mit seiner Frau, die Arm in Arm vor ihm standen und ihn mit fragender Freundlichkeit anstarrten. Die Visage des Mannes kam ihm nicht ganz unbekannt vor und die der Frau war auch schemenhaft in seiner Erinnerung zu finden, doch konnte er den beiden, wie der soeben verklungenen Melodie, keinen Namen zuordnen oder die entscheidende Verbindung zu seiner eigenen Vergangenheit herstellen. Dass diese Verbindung jedoch bestand war für ihn klar; das verriet zum einen seine Intuition und zum anderen der zutrauliche Blick seiner beiden Gegenüber. Doch waren die Folgen seiner Trinkerei, namentlich die der Amnesie, zu tiefgreifend um sie so spontan überwinden zu können. Verlegen mied er jeglichen Augenkontakt mit dem Ehepaar und hörte plötzlich sich selbst, wie er versuchte möglichst harmlos zu antworten. "Mmmhh, oh! G'n Morgeen! Was gib's?!" Darauf brach er in einen ächzenden Hustenanfall aus, der ihn vornüber beugen ließ und einige Momente Zeit in Anspruch nahm, bis er wieder aufrecht vor seinen ehemaligen Bekannten stehen konnte. Die Miene der Frau ging sofort in eine reservierte Vorsicht über, doch ihr Lebenspartner hielt seine Freundlichkeit affektiert aufrecht und entgegnete: "Mensch Pete, was ist denn los mit dir? Kennst du mich nicht mehr? Wir waren früher in einer Klasse! Ich bin's, der David!" Peter wagte einen flüchtigen Blick über das Gesicht seines alten Klassenkameraden, wobei es ihm tatsächlich so vorkam, als könnte dieser damit durchaus recht haben. Völlig überfordert und mit dem einzigen Ziel im Hinterkopf, dieses Gespräch so schnell und glimpflich wie möglich beenden zu können, nahm er sich zusammen und antwortet: "Aaach natü'lich! David! Wie könn'e ich s'was vergess'n?" Während sich die Frau langsam hinter ihren Mann schob, wich aus dessen Blick ebenfalls die Offenherzigkeit und so etwas wie mitleidig-schockiertes Entsetzen stand ihm unfehlbar ins Gesicht geschrieben. Sichtlich angestrengt, weitere Worte zu finden, sagte er: "Ohoh, was ist denn mit dir los? Sag bloß, du trinkst immer noch?", worauf Pete dezidiert entgegensteuerte: "Neeein, nein, nein! 's is nich' so wie du denkst!" und ein weiterer Hustreiz überkam ihn, wobei ihm jetzt der Mann zu Hilfe kam, ihn am Arm packte und zaghaft auf den Rücken klopfte. Dabei versuchte er weiter auf Peter einzureden. "Was machst du denn für Sachen? Wir haben dir schon oft gesagt, dass du so nicht weiter machen kannst. Der Schnaps und die Zigaretten bringen dich in den nächsten Jahren ins Grab, wenn du so weiter machst!" Doch diese Art von Gerede war das Letzte, das Peter leiden konnte; erstrecht wenn es von einem bodenständigen, verheirateten Mann kam, dessen Leben nach Plan verlief und dessen Ansehen mit steigendem Alter ebenfalls anstieg. Verbittert entriss er sich dem Griff des Hilfeleistenden, stütze sich mit den Händen auf seinen Knien nach oben und versuchte möglichst imposant dem Unwissenden zu erzählen, was Sache war. "Aaach lasst mich doch alle in Ruuhhe! Was wisst ihr den schon?! Los, geht weiter in'ie Kirche und betet, dass euer Leben weiterhin sorglos dahinplätschert!". An die Wand gestützt, enthusiastisch mit den Armen wedelnd und mit feuchter Aussprache schmiss er dem schockierten Ehepaar diese erbärmlichen Sätze entgegen, während diese, aus Angst er könnte handgreiflich werden, stetig zurückwichen. Als der Schall der Worte in der Straße verhallte und erneut die friedliche Stille einkehrte, ergriff der Verheiratete die Initiative, packte seine Frau am Arm und zerrte sie eiligen Schrittes von Peter weg, die Straße hinunter. "Komm Andrea, dieser Spinner kann unsere Hilfe nicht gebrauchen. Sehen wir zu, dass wir hier verschwinden." So liefen sie hastig davon und als sie sich in sicherem Abstand befanden, wandte er sich während des Gehens noch einmal um und rief zurück: "Als ein ehemaliger, guter Freund wollte ich dir helfen, wollte dir einen guten Rat geben und das ist nun der Dank? DAS IST DER DANK? Sieh doch zu, wie du deinen Mist alleine regelst und halte dich ab sofort von uns fern! Hast du verstanden?!" Mit diesen Worten verschwanden sie in der Biegung der Straße und ließen Peter im nun zerstörten Frieden des Sonntagmorgen zurück, der nach Luft ringend, nach vorne gebeugt an der Hauswand lehnte und durch die Aufregung der Nüchternheit sofort ein ganzes Stück näher gekommen war. 

Peter war ein Mann von fünfzig Jahren, der seine Vergangenheit verdrängt, seine Gegenwart verschmutzt, und seine Zukunft aus den Augen verloren hatte. Er war ein existenzloser Flüchtling, der von den Wissenden missachtet, und von den Unwissenden übersehen wurde. Einst war er glücklich verheiratet gewesen, hatte mit seiner hübschen Frau bereits den ersten Sohn und war auf dem besten Wege mit einer beneidenswerten Familie und einem ehrenwerten Beruf in den Sonnenuntergang des Lebens zu segeln. Doch dann, vor elf Jahren, kam dieser eine Tag, der im Leben eines jeden Menschen früher oder später kommt, und der das Leben des Betroffenen ein für alle Mal verändern wird; manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten und bei ihm eben zum Letzteren. Diesen Tag hatte er nie vergessen, als er auf der Arbeit die Nachricht vom Tode seiner Frau und seines Sohnes erfahren hatte. Beide wurden in ihrem Auto Opfer eines unvorsichtigen Rentners, der ein Stoppschild übersehen hatte und dadurch das Auto samt Mutter und Kind einen Hügel hinunter geschleudert hatte. Jegliche Hilfe kam zu spät, sodass Peter binnen weniger Sekunden alles verlor, was sein Leben lebenswert gemacht hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles perfekt verlaufen. Die Erfolgskurve seines Lebens war bis dahin exponentiell nach oben angestiegen. Doch in diesem einen Moment brach der Erfolg, die Kurve rauschte abwärts bis hin zur Unkenntlichkeit und löste sich auf, um nie mehr wiederzukehren. Dieser eine Augenblick zog ihm den Boden unter den Füßen weg, ließ ihm schwarz um die Augen werden, absorbierte sämtliche Gefühlsregungen und übrig blieb ein klappriges Nervengerüst aus Selbstvorwürfen, exzentrischer Melancholie und psychotischer Apathie. An diesem Tag verließ er die Firma um die Kneipe seines Freundes aufzusuchen und um nie wieder zurückzukehren. Seitdem wandelte er durch das Leben wie von der Mondsucht besessen und wie von bösen Geistern angelockt. Alle Bekannten, Verwandten, Freunde und Nachbarn hatten über die Jahre hinweg versucht Hilfe zu leisten, doch sämtliche Versuche, ihn zurück in ein tolerables Leben zu bringen, schlugen brutal fehl. Nach und nach verließen ihn seine gutherzigen Unterstützer aus verschiedensten Beweggründen, die von Hilflosigkeit bis Körperverletzung reichten, und die einzige Person, die er nun nach all den Jahren noch hatte, war sein treuer Sandkastenfreund Andreas. Er war zu gutherzig und zu emotional gebunden, um Peter auf den weiten, gefährlichen Weltmeeren der Abtrünnigen auszusetzen, deshalb bot er ihm einen Hafen, in den er stets einkehren konnte und in dem er einen festen Anlegeplatz hatte um seinem Leben wenigstens ein kleines Stück Kontinuität zu verleihen. Außerdem bot er ihm auch einen Job im Ausschank an, den Thomas täglich von siebzehn bis zweiundzwanzig Uhr wahrnahm um sich seinen kläglichen Alltag zu finanzieren. Nach Beendigung seiner Arbeit begab er sich stets einfach auf die andere Seite der Bar um seinem Leben, jeden Abend auf's Neue, seine ganz eigene Vorstellung von Bedeutung und Inhalt zu verleihen.

Auf diese Weise verschwendete er nun seit gut zehn Jahren das, was von seinem Leben übrig geblieben war, und steuerte unbewusst auf die große, schwarze Schlucht zu, bei der alles mit einem lauten Knall zu Ende gehen würde.